38. Bildung als Fluchthelfer – Billigarbeiter als Technologiebremse

Tagesgedanke:

Die heutigen Völkerwanderungen sind weder für die armen noch für die reichen Länder ein Segen. Am Ende verlieren alle.

  Zum Nachdenken über Tags:

Das neoliberale Wirtschaftsmodell will die grenzenlose Mobilität des Faktors Arbeit. Das soll dann weltweit Wohlstand hervorbringen. Denn nach der Theorie werden die Menschen dorthin ziehen, wo sie die besten Löhne bekommen. Das sind die nützlichsten Arbeitsplätze mit den höchsten Erträgen.

Zum angeblichen Segen der Mobilität der Arbeitskräfte kommt als Zweites die Freizügigkeit des Kapitals. Das Kapital für neue Fabriken und sonstige Investitionen  strömt dorthin, wo Arbeitskräfte wohnen, die bereit sind, für weniger Geld zu arbeiten. Arbeit und Kapital ziehen sich gegenseitig an. Alle werden glücklich, so die Theorie.

Dieser Neoliberalismus sitzt tief in den Köpfen der westlichen Ökonomen, Politiker – und der Eurokraten.

Wer vom Schreibtisch aufsteht und in die Welt geht, der sieht eine ganz andere Wirklichkeit, ja weithin das Gegenteil.

  Zur Vertiefung: Selbst hartgesottene Kapitalisten müssten durch einige Tatsachen nachdenklich werden.

Hohe Bildung und billige Arbeitskräfte müssten eigentlich überall das Kapital und die Investitionen anziehen.  Tatsächlich ist Bildung heute in den armen Ländern ein Fluchthelfer.

Wenn nämlich keine heimische Wirtschaftsstruktur und keine örtlichen Wirtschaftskreisläufe da sind, dann folgt der Ausbildung die Abwanderung:

„82 Prozent aller jamaikanischen Ärzte sind im Ausland tätig. 70 Prozent aller Einwohner Guayanas mit Universitätsbildung arbeiten außerhalb ihres Landes. Nordamerikanische Krankenhäuser saugen arme englischsprachige Länder wie Trinidad förmlich nach Krankenpflegern ab.“ [Erik Reinert, Warum manche Länder reich und andere arm sind, Stuttgart 2014, S. 7]

Wie sollen solche Länder reich werden?

Doch auch in der EU sind solche Wirkungen festzustellen. In Lettland sind mehr als 20 % der Bevölkerung seit dem EU-Betritt abgewandert. Das unerfreulichste Beispiel ist Griechenland. Seit seinem Beitritt zur EU (1981) erhält das Land ständig erhebliche Zuschüsse. Doch seither wandern auch dort Arbeitskräfte stetig ab. Eine tragfähige örtliche Wirtschaft hat sich nicht entwickelt. Der freie Binnenmarkt war jedenfalls kein Wachstums- und Wohlstandsbringer.

Nun kommen wir zu einem weiteren Punkt. Billige Arbeitskräfte sind keine Treiber für wirtschaftliches Wachstum. Als der Daimler-Chef Zetsche 2015 meinte, die Masseneinwanderung könne ein neues Wirtschafswunder auslösen, da sagte Hans-Werner Sinn nur trocken: „Er will eben billige Fließbandarbeiter.“ Diese drücken aber nicht nur die Löhne, sie verhindern auch, dass neue kostensparende Fertigungsmethoden eingeführt werden. Billige Arbeiter sind eben billiger. Das ist dann kein Anreiz für eine „Industrie 4.0“, also eine voll digital vernetzte Fabrik. Andere Länder, die dazu angehalten sind, weil sie nicht auf Billigarbeit setzen, werden längerfristig Wettbewerbsvorteile haben. Dazu kann Singapur als Beispiel dienen.

Singapur feierte 2015 seine 50-jährige Unabhängigkeit. Doch das Fest war mit Nachdenklichkeit und Wermutstropfen verbunden. Das Wirtschaftswachstum vergangener Zeiten war vorbei. Die Kluft zwischen Reich und Arm wird immer größer. Es wurde nach den Gründen gesucht. Aus Sicht von Regierungschef Lee ist der richtige Weg in die Zukunft: mehr Automatisierung, weniger billige Arbeitskräfte und eine deutlich höhere Produktivität. Die Gesellschaft ist tief gespalten. Jede siebte Familie hat weniger als 1.000 Euro im Monat - zu wenig für eine der teuersten Städte der Welt. Hauptgrund für die hohe Ungleichheit ist Singapurs bisheriges Wachstumsmodell. „Es fußte zu großen Teilen auf ständiger Zuwanderung billiger Arbeiter. Im Jahr 2000 stellten ausländische Beschäftigte noch 28 Prozent der Erwerbstätigen, mittlerweile sind es rund 38 Prozent, insgesamt über 1,3 Millionen Beschäftigte. Ein großer Teil von ihnen arbeitet im Niedriglohnsektor." [Handelsblatt, 05.02.2015]

Eine große Sorge des Regierungschefs waren auch die Wahlen. „Auf dem Parteitag im Dezember sprach Lee sogar vom drohenden Machtverlust bei den nächsten Wahlen, die voraussichtlich dieses Jahr oder 2016 anstehen. Dem Land stehe ein „todernster Wahlkampf" bevor. Lee will seine Partei vor einer Schmach wie bei der letzten Parlamentswahl 2011 bewahren, als sie das schlechteste Ergebnis seit 1965 erzielte.“ [Handelsblatt, 05.02.2015]

 In einem Interview mit Beh, dem Chef der Investmentagentur Singapur, fragte das Handelsblatt:

„Singapur hat den Zuzug billiger Arbeitskräfte gestoppt. Warum?“

Beh: „Wir müssen darauf achten, dass diese Arbeitskräfte auch vom Markt absorbiert werden und die Gesellschaft den Zuzug verkraftet. … Wir setzen jetzt auf qualitativen Wandel, auf die Transformation bereits bei uns ansässiger Firmen hin zu mehr Innovation und höherer Produktivität.“ [Handelsblatt, 05.02.2015,]

Billigarbeiter sind in reichen Ländern eine Technologiebremse. Denn sie schwächen den Ansporn zu Rationalisierungen, Erfindungen und Neurungen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit nimmt ab. Dazu geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf. Auch in bisher reichen Ländern sinkt das Lohnniveau. Die Sozialausgaben steigen zusätzlich durch Zuwanderung in die Sozialsysteme. Dadurch müssen die Steuern steigen. Der Mittelstand schmilzt. Fast alle verlieren. Nur die Superreichen ziehen in die Steueroasen und kaufen die Welt.

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