44. Wird die Globalisierung ganz anders laufen?

Tagesgedanke:

Die Neoliberalen bekommen Gegenwind – auch aus den Schwellenländern.

   Zum Nachdenken über Tags:

Auf Betreiben Chinas haben die BRICS-Staaten eine eigene „Neue Entwicklungsbank“ (NDB = New Development Bank) gegründet. BRICS steht für die Länder Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika.

Der Sitz der Bank ist Schanghai, Chef ist K. V. Kamath, der angesehenste indische Banker.

China hat zudem dafür gesorgt, dass die „Asiatische Infrastruktur und Investitionsbank“ (AIIB)  geschaffen wurde. Sie zielt wohl auf die kleineren und mittleren ostasiatischen Staaten.

Erklärtes Ziel beider Einrichtungen ist, eine Alternative zu den Washingtoner Institutionen (Weltbank, IWF, WTO) und ihrer neoliberalen Ideologie zu sein. Das gilt für die Inhalte sowie für die Verhandlungen über Klima, Handelsverträge und weltweite Zusammenarbeit.

Zur NDB gab ihr Vorstand K. V. Kamath dem Handelsblatt ein aufschlussreiches Interview. „Wir wollen nicht nur ein Beispiel setzen für die besseren Standards in der Entwicklungszusammenarbeit, sondern die kommenden Standards setzen.  ... Wir sind eine Institution des neuen Jahrhunderts“, verkündet stolz Kamath. [Handelsblatt 07.06.2016]

Die Wirtschaftskraft der BRICS-Länder ist mit 16 Bill. $ knapp so groß wie die der USA, hat z. T. aber deutlich höhere Wachstumsraten. Entsprechend selbstbewusst und ehrgeizig ist das Auftreten. Man will nicht nur schneller sein als die Washingtoner Institutionen, sondern betont auch die andere Weltsicht und Denkweise.

Zur Verteifung:

„Wir haben eine andere Geisteshaltung“, betont K. V. Kamath und zielt auf den Kern der neoliberalen Strategie: „Historisch gesehen haben entwickelte Länder anderen Ländern gesagt, was sie für richtig und falsch halten.“ Doch der Aufstieg einiger Schwellen- und Entwicklungsländer habe gezeigt, „dass wir auch selbst verstehen, wie die Dinge laufen“. Und Kamath fügt an: „Wir als Institution hören unseren Partnern zu, statt ihnen zu sagen, wie sie die Dinge tun sollen.“  Genau dieses westliche Missionsdenken kritisieren immer wieder Asiaten, aber auch Altkanzler Helmut Schmidt. (12. Weltfrieden statt Krieg der Kulturen) Die „Washingtoner“ verbinden ihre Kredite immer mit neoliberalen Auflagen (Freihandel, Vorgaben für öffentlichen Haushalte, Privatisierungen z.B. von Wasser usw.).

Die Asiaten gehen hier sehr lebensnah vor. Sie wollen schauen und lernen, nicht theoretisieren und belehren. Sie sind Praktiker und Unternehmer, keine Harvard-Professoren oder Ideologie-Politiker. Sie wollen Entwicklungsprojekte finanzieren, von denen sie glauben, dass sie sich rechnen und Nutzen stiften.

„Wir haben uns entschieden, nicht im politischen Raum zu agieren, sondern einen Dialog mit unseren Partnern zu führen“, sagt Kamath.

Auf die Frage, ob China, die USA oder Europa den richtigen Ansatz hätten, kommt eine ganz unaufgeregte Antwort: „Ich glaube nicht, dass es da das eine Modell gibt. … Wir lernen davon. Gleichzeitig lernen wir von Ländern wie China, die durch eine Entwicklungsphase gegangen sind. Russland und Brasilien haben ihre eigenen Modelle. Das berücksichtigen wir  alles.“

Zum Schluss kommt die Gretchen-Frage aller Neoliberalen, nämlich nach Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft oder Freihandel: „Für einige Länder liegt die Antwort in einem wachsenden Protektionismus. Beunruhigt Sie das?“

Die Antwort ist wieder ganz undogmatisch: „Das ist alles Teil der Landschaft, in der wir arbeiten müssen, denn letztlich wird jedes Land seine eigenen Interessen verfolgen. … In Zukunft werden die entwickelte Welt und die sich entwickelnde Welt weitere komplementäre Lösungen finden. Aber zuerst werden die Länder nach ihren eigenen Bedürfnissen schauen.“ Das heißt Schutzzölle und andere Maßnahmen sind nicht ausgeschlossen.

Darüber findet derzeit sogar in den USA ein Nachdenken statt. Dazu lesen wir nichts in der neoliberal ausgerichteten Wirtschaftspresse. Doch die Nachrichten des VDI (= Verein Deutscher Ingenieure) berichten: „Das Dogma, internationaler Handel nutze allen, gerät ins Wanken.“

Vertreter von drei angesehenen Universitäten kommen zum Ergebnis: Durch Billigimporte aus China sind in den USA 2,4 Mio. Arbeitsplätze in der Fertigungsindustrie verschwunden. Dabei ist nicht, wie Neoliberale stets prophezeien, an anderer Stelle annähernd gleichwertiger Ersatz entstanden. Auch nachdem in China die Löhne so gestiegen waren, dass sich die Produktion in den USA wieder lohnte, blieb es beim „wirtschaftlichen Niedergang ganzer Regionen“. Denn der Aufbau industrieller Strukturen und die Heranbildung von Fachkräften „dauert sehr lange und kann sich über eine Generation hinziehen.“ [VDI nachrichten, 17.06.2016]

Die Untersuchung trägt den Titel „Der China Schock“. Verfasser sind David Autor (Massachusetts Institute of Technology, MIT), David Dorn (Universität Zürich) und Gordan Hanson (University of California, San Diego). Alles Forschungs-Einrichtungen erster Güte, auch nach neoliberalem Ranking.

Ähnliche Schocks erlebten wir durch den EU-Binnenmarkt, die Einführung des Euros und die EU-Osterweiterung. In ganz Südeuropa, nicht nur in Griechenland, aber auch in (Ost-)Deutschland sind viele Arbeitsplätze dadurch „platt gemacht“ worden. Jede Marktvergrößerung ging einher mit dem Versprechen der Ökonomen, neue Arbeitsplätze und mehr Wohlstand zu bringen. Tatsächlich steigt seit den 1970er Jahren die Arbeitslosigkeit stetig, europaweit und auch bei uns.

Auch Hans-Werner Sinn erkannte 2004 die „Drei Schocks auf einmal: Euro, Binnenmarkt und Osterweiterung der EU“. [Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten? München 2004, S. 80 ff] Allerdings empfahl er für Deutschland massive Lohnsenkungen, sonst sei mit dem Schlimmsten zu rechnen [S. 89 ff]. Das kann aber nicht richtig sein, weil der Bürgerstaat und die Soziale Volkswirtschaft das Ziel haben: „Mittelstand für alle“. Die Vorschläge von Sinn wären eine ungebremste Verarmung mit Prekariat und Zwei-Drittelgesellschaft.

Auch die damaligen Voraussagen von H.-W. Sinn zum schnellen großen Segen des Binnenmarkts, des Euros und der Osterweiterung für die Süd- und Osteuropäer, die Iren u.a. lagen voll daneben. Die Schocks kamen für alle, und der TTIP-Schock könnte noch kommen. Ein Kernproblem ist, dass stets im blinden Vertrauen auf die Marktkräfte solche Umstürze übers Knie gebrochen werden. Es fehlt die Strategie einer „Sozialen Volkswirtschaft“.

Darüber sollten unsere verehrten Leser in der Sommerpause, vielleicht unter dem Sonnenschirm, nachdenken. Viel Spass!

Erholsame Ferien:

Wir wünschen all unseren Blog-Lesern erholsame Sommerferien. Unseren einigen hundert Lesern und Leserinnen von der südlichen Halbkugel, z.B. in Brasilien, wünschen wir einen schönen Winterurlaub. Vielleicht in Patagonien?

Unser nächster Tagesgedanke erscheint am 12. September 2016

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