53. Volkssouveränität und politische Führung

Tagesgedanke:

Volkssouveränität verbessert die politische Führung. Sie deckt Missstände auf und zwingt die politische Klasse zum Handeln. 

  Zum Nachdenken über Tags:

Heute stehen sich in den westlichen Demokratien zwei gegensätzliche Meinungen gegenüber. (1) Die eine vertritt die Ansichten und die Interessen der politischen Klasse. Diesen Parteienstaat verkörpert die herkömmliche repräsentative Demokratie. (2) Die Gegenmeinung fordert Abstimmungen und Volkssouveränität. Dieser basisdemokratische Bürgerstaat ist in der Schweiz verwirklicht. Viele sehen heute einen „Aufstand der Bürger“ (Gabor Steingart). Es wird sogar von der kommenden post-repräsentativen Demokratie gesprochen.

Zur etablierten politischen Klasse gehören inzwischen die Alt-68-ger und einstigen Räte-Republikaner. So wendet sich der Altlinke und Professor Claus Leggewie gegen „die Fantasie, die ‚einfachen Leute‘ könnten es besser als Politiker, Professoren und Publizisten.“ Er meint: „Das Konzept der plebiszitären Demokratie stellt das Volk über das Recht.“ Das sei u.a. das Konzept der Rechtspopulisten wie der AfD. [Südd. Zeitung 03.04.2017] Für viele zeigt dagegen das Aufkommen des dritten P, der Populisten, dass die P³ (Politiker, Professoren und Publizisten) bei ihrer Aufgabe versagen, nämlich mit Voraussicht und Sachverstand Probleme zu erkennen, Strategien und Lösungen zu erarbeiten und bei Abstimmungen zu überzeugen. Sie sind ratlos und in ihren alten Ideologien verfangen. Wie das aufzubrechen ist, zeigen Volksabstimmungen.

Nach dem Nein der Niederländer zum EU-Beitritt der Ukraine und dem Brexit waren es auch Grüne, die entgegen früheren lautstarken Forderungen nun gegen Volksentscheide wetterten. Sie wollen nun den Parteienstaat. Justizminister Maas wurde noch deutlicher: „Der Konsument ist nicht mündig.“ Damit meinte er die Nutzer der sozialen Medien, also die Bürger, nach Schweizer Sprachgebrauch den ‚Souverän‘. Der bekannt Fernsehjournalist Peter Hahne empörte sich gerade über diesen Satz in einem Interview. [Peter Hahne bei Minute 6,37] Das Volk als unmündig zu bezeichnen, ist die Absage an Art. 20 Grundgesetz, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Der Artikel hat aber die Ewigkeitsgarantie und darf nicht abgeschafft werden.

Die Gegenmeinung ist fest im politischen Bewusstsein der Schweizer verankert. Dort können die Bürger durch Abstimmungen Gesetze erzwingen und jedes Gesetz im Nachhinein kippen. Sie entscheiden sogar, wie viel und wofür sie Steuern zahlen. Das ist das Modell des Bürgerstaats.

Zur Vertiefung:

Einen Nachmittag lang stritt ich mit einem alten Studienfreund und langjährigen Landtagsabgeordneten über Volksentscheide. Sein erster und spontaner Einwand war: „Da werden die Volksvertreter entmachtet.“ Als zweites folgte: „Die Leute verstehen gar nicht, worum es geht.“ Lang und breit wollte er mir dann klar machen, was alles beim Gesetzgebungsverfahren zu beachten ist. Schließlich erwiderte ich: „Alles, was nach deinen Ausführungen zu beachten ist, sind die Lobbygruppen. Das zeigt, es geht dabei nicht um das Gemeinwohl, den Gesamtnutzen; es geht um Teil- und Gruppeninteressen, die gegeneinander ausbalanciert werden. Da wird mit den Mächtigen gearbeitet, es geht um Macht. Die Bürger wollen vernünftige Lösungen für ein friedliches bürgerliches Zusammenleben.“

Die Frage, wozu wir Politiker brauchen, wurde schon einige Male erörtert.  Sie sollen politisch-strategisch denken und politische Konzeptionen der Volksvertretung oder dem Volk im Bürgerstaat zur Entscheidung vorlegen. Wir müssen nun überlegen, ob Volkssouveränität und politische Führung zusammenpassen; danach, ob die Volkssouveränität gar die politische Führung verbessert.

Volksabstimmungen nach Schweizer Qualität führen zu einem Begründungszwang für jedes Gesetz. Es muss auch klar und verständlich sein. Vor allem müssen die Bürger von der Richtigkeit und Notwenigkeit überzeugt werden. So leichtfertig, wie wir es erlebten, wäre der Euro in der Schweiz nie eingeführt worden. Helmut Kohl sagte klar: „Eine Volksabstimmung über den Euro hätten wir verloren.“ [ARD-Interview 24./25.03.2015 siehe auch „Gebt den Bürgern ihren Staat zurück]

Heute wissen wir: Eine gründliche Vorbereitung hätte uns viel Ärger und Krisen erspart. Und TTIP hätte in Deutschland derzeit auch keine Chance. Verhandlungen hinter verschlossenen Türen senken zudem die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung.

Außerdem gibt es kein Aussitzen der Probleme, kein unter den Teppich kehren. Denn irgendeine Gruppe bringt die schwelende Unzufriedenheit immer vors Volk. So schreibt ein Zeitungsleser: „Die direkte Demokratie bildet ein Gegengewicht, unter anderem zur Verneinung, Verschleppung, Tabuisierung von Problemen, ein Gegengewicht zur Abgehobenheit, Arroganz, Geldverschleuderung.“ [Wolfgang Koydl, Die Besserkönner, S. 159 ff.]

Je nach Kanton gibt es zwingende oder mögliche [fakultative] Volksabstimmungen über große Investitionen. Je niederer die Hürde für eine Volksabstimmung ist, umso weniger sind die betreffenden Kantone verschuldet. Das zeigte die Untersuchung von Patricia Funk (Universität Pompeu Fabra, Barcelona) und Christina Gathmann (Universität Mannheim):

„Die Forscherinnen untersuchten in einer akribischen Fallstudie die Entwicklung der Staatsfinanzen aller 25 Schweizer Kantone in den vergangenen 110 Jahren. Dabei stellten sie fest: Je stärker die Einwohner in einem Kanton selbst über die Verwendung der Staatsausgaben mitreden können, desto besser ist es dort um die öffentlichen Finanzen bestellt.“ [Handelsblatt 19.12.2011, S. 18]

Zum Gotthard-Basis-Tunell und den anderen Alpenquerungen der Eisenbahn gab es seit 1992 mehrere Volksabstimmungen über Linienführung und Kosten. Jetzt wird gebaut und das Vorhaben liegt im Zeit- und Kostenplan. Da können die Berliner Parteipolitiker als Aufsichtsräte des Flughafens Berlin-Brandenburg nur staunen.

Der Bürgerstaat baut sich von unten nach oben auf. Der Parteienstaat ist das Gegenteil. „Oben sticht unten!“ Die Oben wissen alles besser und sagen uns bis ins Einzelne, was und wie wir es machen müssen.

Damit sind wir bei der nächsten großen Fehlentwicklung im Parteienstaat: der Überregulierung. Sie raubt uns durch immer engere Vorschriften die Freiheit, die Eigenverantwortung und unser Vermögen.  Hier ist die EU unübertroffen; aber jeder Zentralstaat und jeder Parteienstaat, der sich mit der Lobby verbrüdert, ist hier Meister.

Das sehen heute viele so. Paul Kirchhof, der Professor aus Heidelberg, Verfassungsrechtler und ehem. Verfassungsrichter, schrieb schon 2006 das Buch: „Das Gesetz der Hydra – Gebt den Bürgern ihren Staat zurück“  Er zeigt anschaulich und bildhaft das Unheil. Die Hydra ist ein vielarmiges Seeungeheuer der griechischen Sage, das alles erdrückt und verschlingt. Es gibt keine Entrinnen, keine Freiheit.

Im Bürgerstaat kann sich der Bürger gegen diese Parteienherrschaft wehren: durch Volksabstimmungen

Das führt zur besseren Politik. Die politische Klasse wird an den Zügel genommen. Im Parteienstaat hat sich die politische Klasse mit den Reichen und Mächtigen verbündet, mit den Lobbyisten der Weltwirtschaft. Sie herrschen inzwischen global. Das zeigen die bisherigen Blog-Berichte zur Wirtschaft z.B. „Soziale Volkswirtschaft statt Weltkapitalismus“ und das Buch „Soziale Volkswirtschaft“.

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