43. Die Bringschuld der Wissenschaft

Tagesgedanke:

Die Wissenschaft verschafft uns immer schneller, immer mehr Wissen. Der Überblick und das Verständnis der Zusammenhänge werden immer wichtiger. So wird Bildung zur Bringschuld der Wissenschaftler.

  Zum Nachdenken über Tags:

Wir müssen hier unseren Tagesgedanken „39. Erziehung und Bildung, Weisheit und Wissenschaft“ fortsetzen. Bildung vermittelt Orientierung im Leben, Überblicke und Verständnis der Zusammenhänge. Wissenschaft will es dagegen ganz genau wissen. Sie dringt bis zu den Einzelheiten und Besonderheiten ihres Faches vor.

Oft sieht es so aus: Je mehr wir wissen, umso weniger verstehen wir.

Was ist passiert? Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik, in Staat und Gesellschaft haben sich so beschleunigt, dass wir sie oft nicht mehr ordnen und verstehen können. Vor uns liegt dann ein Durcheinander. Die Entschuldigung heißt: Die Welt ist zu ‚komplex‘ geworden.

‚Komplex‘ und ‚kompliziert‘ heißt auf Deutsch ‚verwickelt‘. Doch was verwickelt ist, das müssen wir entwickeln, aufrollen und durch klares Denken offenlegen. Hier haben Wissenschaftler und Bildungspolitiker eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft, der Jugend und den Bürgern. Sie müssen ihre Erkenntnisse in allgemein verständliche Bildung umformen, damit die Bürger sie für Lösungen nutzen können.

Es war ein Markenzeichen deutscher Denker und Gelehrter, ihr Wissen und ihre Wissenschaften sauber zu strukturieren, klar und verständlich darzustellen. Hier ist viel verloren gegangen. Für die Richter und Juristen sagte 2011 Konrad Redeker (1923 – 2013), der langjährige Herausgeber der bekannten NJW (Neue Juristische Wochenschrift): „Urteile brauchen eine knappe und schlichte Sprache. … Aber in der knappen und schlichten Sprache eines Urteils sollte hiervon nur das wiederkehren, was letztlich entscheidungserheblich ist. Die Parteien sollen den Gedankengang des Urteils nachvollziehen können…“ [Handelsblatt, 26.04.2011, S. 18]

Nehmen wir dazu ein Beispiel aus der heutigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Ein Leitsatz des Bundesverwaltungsgerichts zeigt die ‚Untherapierbarkeit‘ der Richter:

„Die fehlende Therapierbarkeit eines bei Wiederaufnahme der Arbeit möglichen Wiederauflebens depressiver Symptome, die primär auf geringer Arbeitsmotivation nicht nur für einen konkret zugewiesenen Arbeitsplatz, sondern auch allgemein für jeden anderen amtsgemäßen und laufbahntypischen Einsatz in der Verwaltung der Bundeswehr beruht, ist bei amt- und fachärztlich festgestellter allgemeiner Dienstfähigkeit als Arbeitsverweigerung und schuldhaftes Fernbleiben vom Dienst zu werten. Ein solcher Fall liegt hier zur Überzeugung des Senats vor.“ [Bundesverwaltungsgericht, Beschluss des 1. Disziplinarsenats vom 26.02.2003.]

  Zur Vertiefung:

„Es ist ein Beweis hoher Bildung, die größten Dinge auf die einfachste Art zu sagen.“ [Ralph Waldo Emerson [1803–1882]; amerik. Philosoph und Schriftsteller]

Als der Journalist und spätere DDR-Beauftragte Günter Gauß 1966 Adenauer fragte, ob er die Bezeichnung ,,Großer Vereinfacher der Politik" als Lob oder Abwertung verstehe, antwortete er: ,,Das halte ich für ein ganz großes Lob. Denn in der Tat, man muss die Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach sind. Wenn man an der Oberfläche der Dinge bleibt, sind sie nicht einfach; aber wenn man in die Tiefe sieht, dann sieht man das Wirkliche, und das ist immer einfach." [Süddeutsche Zeitung, 23.02.2001, S. 10]

Um das zu verstehen, müssen auch wir in die Tiefe gehen.

Wissenschaft schreitet in drei Stufen voran. Es beginnt mit der beschreibenden Wissenschaft. Die Forscher sammeln und ordnen z.B. die Pflanzen wie Otto Schmeil (1860 – 1943). Otto Schmeil, Sohn eines Lehrers, war zunächst Volksschullehrer. Er gilt als großer Reformer des Naturkundeunterrichts. „Seine Bücher zeichneten sich durch einen leicht verständlichen Text, Tafeln, Zeichnungen und – erstmals für ein Biologielehrbuch – auch Fotografien aus.“ Sein mit Jost Fitschen, ebenfalls Lehrer, erarbeitetes Pflanzenbestimmungsbuch „Flora von Deutschland und seinen angrenzenden Gebieten“ erschien erstmals 1903 und wurde in viele Sprachen übersetzt. Es hat inzwischen 95 Auflagen mit 2,5 Mio. Exemplaren.

Wenn die beschreibende Wissenschaft die Begriffe bestimmt und geordnet hat, dann werden auch Überblicke und Zusammenhänge erkennbar. Es werden Modelle über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebildet. Ein in sich schlüssiges Gebäude von Modellen wird Theorie genannt. Der Schritt zur erklärenden Wissenschaft ist vollzogen. Charles Darwin hat zum Beispiel durch seine lebenslangen Vergleiche der Tierarten eine Theorie für die Stammesgeschichte der Lebewesen geschaffen (Evolutionstheorie). Und dann wurde erkannt, dass jeder Mensch von der befruchteten Eizelle bis zur Geburt wieder alle Stadien dieser Entwicklung durchläuft. Die Ontogenese (Menschwerdung) ist eine Wiederholung der Phylogenese (Stammesentwicklung), sagen die Biologen.

Jetzt sind wir bei der voraussagenden, anwendungsbezogenen Wissenschaft. Wir können sagen, dass aus der Befruchtung einer Eizelle die Geburt des entsprechenden Lebewesens folgen kann. In den Naturwissenschaften ist es aufgrund der Naturgesetze leicht, feste Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen zu erkennen und vorauszusagen. Doch die Wirtschaftswissenschaften haben diesen Ehrgeiz auch, obwohl sie eine Geistes- oder Humanwissenschaft sind. Aufgrund der Unberechenbarkeit der Menschen liegen sie oft falsch.

Aus diesem Grund haben die Liberalen und Neoliberalen den „Homo oeconomicus“ erfunden. Wir können ihn den „wirtschaftlich vernünftigen Menschen“ nennen. Denn nach dieser Vorstellung handeln alle Marktteilnehmer immer nur eigennützig und vernünftig. Selbstsucht und puren Egoismus warfen und werfen daher zu Recht die Linken den Liberalen vor.

Einer der ersten, der am gründlichsten den Homo oeconomicus kritisierte, ist der deutsche Volkswirt und Mathematiker Reinhard Selten (geb. 1930 in Breslau). „Ein durchgängig überlegenes Paradigma, das ihn [= homo oeconomicus] ein für alle Mal ablösen könnte, hat sich, auch mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem Selten mit seiner Forschung begonnen hat, nicht herausgebildet.“ [Lisa Nienhaus, Die Weltverbesserer, München 2015, S. 91] Nur ein berechenbarer Homo oeconomicus lässt sich in die mathematischen Modelle einbauen.

Kehren wir zurück zur Bringschuld der Wissenschaftler und Bildungspolitiker. Sie sind Teil der Gesellschaft und werden weithin über öffentliche Gelder und Steuern finanziert. Sie haben einen gesellschaftlichen Auftrag, gerade im Bürgerstaat.

Wenn die Wissenschaftler ihr Fachwissen genau und sorgfältig ausarbeiten, dann können sie es auch der Öffentlichkeit einfach und verständlich darstellen.

Ein Beispiel aus der Betriebswirtschaftslehre (BWL) ist die „Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre“ von Günter Wöhe. Heute heißt es dazu vom Verlag: „Dieses Lehrbuch eignet sich besonders als Einführung, da spezielle betriebswirtschaftliche Kenntnisse nicht vorausgesetzt werden und dennoch das gesamte Wissen der Betriebswirtschaftslehre in klarer Systematik und gut verständlicher Sprache dargeboten werden.“ Den „Wöhe“ gibt es nun seit über 50 Jahren; und er ist immer noch mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren das meistverkaufte BWL-Buch der Welt.

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