13. Bürgerstaat: Werte und Wertewandel

Werte sorgen für das friedliche Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft. Die Ereignisse der Silvesternacht 2015 / 2016 haben die Bedeutung von Werten als allgemeine Verhaltensregeln wieder bewusst gemacht. Überhaupt hat die Auseinandersetzung mit dem Islam und anderen Kulturen die Frage nach europäischen Werten entfacht.

Gerade der Bürgerstaat, der von unten statt von oben seine Ziele, Gesetze und Lebensformen entwickelt, braucht gemeinsame Werte und Überzeugungen. Denn es wird nicht wie in einem Zwangs- oder Obrigkeitsstaat von Kommissaren kommandiert, was richtig oder falsch ist. Es ist auch nicht eine selbsternannte Elite oder politischen Klasse, die der Herde vorgibt, was zu glauben und zu tun ist. Die mündigen Bürger sprengen die ideologischen Raster, „denn letztlich geht es um etwas sehr einfaches: dass freie Individuen frei entscheiden können, was das Beste für sie ist“. [Wolfgang Koydl, Die Besserkönner, Zürich 2014, S. 14] Die Zeit und unsere Bürger sind reif dafür.

Machen wir uns also Gedanken darüber, wie bei jedem von uns Werte entstehen. Fragen wir, ob sich Werte wandeln oder immer gleich und ewig gültig sind. Fragen wir auch, ob Werte zeit-, raum- und kulturabhängig sind. Kant und andere große Philosophen, die Religionen und Ideologie samt ihren Gläubigen behaupten bis heute, dass es nur eine Wahrheit und Wertordnung gäbe, und zwar die jeweils eigene.

Die heutige Hirnforschung erklärt uns, warum wir Menschen zu unterschiedlicher Wahrheit und Moral kommen.

Im 20. Jahrhundert haben unsere Kenntnisse über „den gestirnten Himmel über uns“ und „das Gesetz in uns“ (Kant) gewaltig zugenommen. So kann erklärt werden, wie und warum nicht nur die „reine oder die praktische Vernunft“, sondern auch Gefühle und Instinkte unsere jeweils ganz persönlichen Werte bestimmen. Wir haben nämlich drei miteinander verbundene Einzel-Gehirne. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung (biologischen Evolution). Ihre Aufgaben und ihr Aufbau sind unterschiedlich.

Das älteste und innerste ist das Reptilhirn, auch Stammhirn genannt. Wir haben es mit den Kriechtieren gemeinsam; und bei ihnen wurden auch Aufbau und Funktionsweise erforscht. Fressen, Beißen und der reine Geschlechtstrieb sitzen hier. Instinkte und Hormone, Reflexe und Erregungszustände steuern das Verhalten, und man kann damit überleben. Höhere Tiere und wir Menschen haben dann noch das Limbische System als zweites Gehirn dazubekommen. Gefühle und Mitgefühle, Zu- und Abneigungen, Freude, Trauer und Stimmungen gehen unbewusst, spontan von hier aus. Schon an unserem Hund werden wir vieles davon entdecken. Wir könnten hier von „Seele“ oder „Herzlichkeit“ sprechen, im Unterschied zum kühlen mathematischen Verstand. Damit sind wir beim letzten und nur uns Menschen eigenen Gehirnteil: der Großhirnrinde. Das Denken und bewusste Erleben, der Wille mit den willkürlichen Bewegungen und die Sprache machen uns zum „homo sapiens“, zum vernunftbegabten Menschen.

Doch mit der Vernunft ist es so eine Sache. Denn unserem Bewusstsein entzogen wirken die zwei anderen Gehirne auf das oberste ein – und umgekehrt. Da alles zusammenwirkt, ist nach heutigem Wissensstand eine scharfe Trennung nicht möglich (z.B. Neugiertrieb). Einzelne Krankheiten werden jedoch ganz oder überwiegend einem der Gehirne zugeordnet (z.B. Autismus dem Limbischen System). Das obige Bild zeigt stark vereinfacht das Modell nach Paul McLean. [anschaulich und reich bebildert: Hans Günter Gassen, Das Gehirn, Darmstadt 2008; gut auch: Karl Popper und John Eccels, Das Ich und sein Gehirn, München 1987]

Werte sind Überzeugungen, die ins Limbische System abgesunken und so gefühlsmäßig aufgeladen sind. Das hat die Volksweisheit erkannt: „So können die Irrtümer des Geistes zu leidenschaftlichen Angelegenheiten des Herzens werden.“ Alles, was wir gut können, was uns in Fleisch und Blut eingegangen ist, läuft selbsttätig, unbewusst ab. Auto- und Skifahren erlernen wir bewusst und mit geistiger Anstrengung. Doch beim Könner läuft es sozusagen automatisch ab. Das gilt sogar für höchste Denkarbeit. In manchen Bereichen können wir blitzschnell reagieren, uns ist sofort klar, was für uns falsch oder richtig ist; wir wissen sofort, was wir tun oder lassen müssen. Das ist dann das Zusammenspiel von Großhirnrinde und Limbischem System.

Auch das Reptilhirn wirkt mit. Es gibt Menschen, die sind weniger, andere stärker Trieb gesteuert. Hypersexuell sind manche, der Volksmund nennt sie „notgeil“. Andere können ihre Treibe besser beherrschen. Das gilt für alle Triebe, die zur Sucht werden können. (Wir gebrauchen hier umgangssprachlich Trieb und Instinkt gleichbedeutend.)

Immanuel Kant hält Gefühle für sehr wertvoll, doch bei sittlichen Entscheidungen geht für ihn die Vernunft immer vor. Das gilt erst Recht für Triebe, wenn sie mit der Vernunft in Widerspruch geraten. „Wenn wir die Herzen öffnen, dürfen wir den Verstand nicht verlieren.“ [nach Garri Kasparow, Schachweltmeister, Vorsitzender der Human Rights Foundation, im Handeksblatt 08.12.2015] Das gilt gerade für die Politik in diesen Tagen.

Unser Bewusstsein und unsere Werte sind geprägt von natürlichen und kulturellen Umwelterfahrungen, von Erziehung und Bildung, von Vererbung und Begabung – von den Ergebnissen des Zusammenspiels unserer drei Gehirne. Das alles wirkt bei jedem Menschen auf eine ganz eigene und persönliche Art zusammen. Wer in einer Oase in der Sahara aufgewachsen ist und dort erzogen wurde, denkt und fühlt anders als ein Inder aus Bombay oder ein Japaner aus Tokio.

„Soziale Bindung“ ist die Zugehörigkeit eines Menschen zu „seiner“ Gemeinschaft und ihren Werten. Soziale Bindungen üben immer über die jeweilige Gemeinschaft oder Gesellschaft eine soziale Kontrolle aus. Es wird zwischen Gut und Böse unterschieden. Darauf beruht auch unsere ganze Rechtsordnung. Nicht nur das Strafrecht mit seinen Verurteilungen, auch das Bürgerliche Recht mit dem Ersatz für vorsätzliche oder fahrlässige Schädigungen.

Damit sind wir mitten in einem Glaubensstreit der Gehirnforscher. Gut oder böse kann ein Mensch nur handeln, wenn er einen freien Willen hat, wenn es aus Verantwortung und Überzeugung das Gute tun und das Böse unterlassen kann. Ein sehr anerkannter heutiger Gehirnforscher ist Wolf Singer. Er sagte in einem Vortrag am 22.09.2011 in Heidelberg, dass die Forschung das Meiste über unser Hirn, etwa 90 %, noch nicht wisse. Trotzdem zog er weitreichende Schlüsse: „Der Mensch hat keinen freien Willen.“

Der oben erwähnte und ebenso anerkannte Forscher Hans Günter Gassen, Karl Popper, John Eccles u.a. sehen das anders. Sie vermuten einen freien Willen, obwohl er derzeit durch die Hirnforschung weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Popper und Eccles gehen davon aus, dass das „Ich“ in Form eines freien Willen unser Hirn und Verhalten steuert. Eccles, auch ein angesehener Hirnforscher, spricht vom Liaison-Hirn, wo der Geist oder das „bewusste Ich“, auf die linke Hirnhälfte einwirkt. [Karl Popper und John Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München 1987, Abb. S. 450; aufschlussreich auch Kapitel P3: Kritik am Materialismus] Singer kannte Eccles gut und meinte in der Diskussion beim o.g. Vortrag: „Das haben wir schon ausführlich mit Eccles erörtert. Aber wir haben das „Liaison-Hirn“ nicht gefunden.“ Könnte sich ja bei den unbekannten 90 % befinden! Hans Günter Gassen gibt uns eine gute Darstellung „Der freie Wille“ und über den Stand des heutigen Wissenschaftsstreits in seinem Buch. Er schließt das Kapitel mit einem Kollegen-Zitat: „Ignorabimus – wir werden es nie wissen.“ [Hans Günter Gassen, Das Gehirn, a.a.O., S. 143] – Doch unser ganzes Rechtsystem setzt einen freien Willen voraus. Andernfalls gäbe es keine Verantwortung. Niemand dürfte wegen seiner Straftaten verurteilt werden; er konnte ja nicht anders. Das Zusammenleben geriete aus den Fugen.

Manche Neomarxisten und Sozialpädagogen sehen heute keine Täter und Verbrecher mehr, sondern nur noch arme Kranke. Hans Magnus Enzensberger, selbst Neomarxist, hat das kritisiert und auf den Punkt gebracht: „Auf diese Weise wird das Verbrechen aus der Welt geschafft, weil es keine Täter mehr gibt, nur noch Klienten. Auch Höß und Mengele stünden damit als Opfer da, denen wir etwas schuldig wären, nämlich eine angemessene psychotherapeutische Behandlung auf Krankenschein. … Da alle andern für nichts etwas können, am allerwenigsten aber für sich selber, existieren sie als Personen nicht mehr, sondern nur noch als Objekte der Fürsorge.“ [Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt / M. 1993, S. 38]

Wenden wir uns einem weiteren Kriegsschauplatz der Ideologien zu. Es ist der Kampf um unsere westlichen Werte und Menschenrechte. Sind sie ewig gültig und unabänderlich oder raum-, zeit- und kulturabhängig? Es ist die Frage nach dem Wertewandel. Nach allem, was wir bisher gesagt haben, ist der Wertewandel normal, der Werteverlust aber eine Katastrophe. Die Geschichte bestätigt das. Auch bei uns in Europa gab und gibt es Wertewandel.

Wie unterschiedlich die Ergebnisse sein können, zeigt uns einer der größten abendländischen Denker, Aristoteles. Er hat sich ausführlich mit den „intellektuellen und moralischen Tugenden“ beschäftigt und kommt zum Ergebnis: Frauen sind von Natur aus minderwertiger als Männer, Sklaverei ist nicht unmoralisch, sondern naturbedingt. Doch es ist barbarisch, Frauen wie Sklaven zu behandeln. [Anthony Kenny, Geschichte der abendländischen Philosophie, Band I - Antike, Darmstadt 2016, S. 99 mit Nachweis der Fundstellen] Das verstößt abgrundtief gegen alle heutigen westlichen Werte und Menschenrechte. Bei der Darstellung der Lehre von Aristoteles wird das meist nicht erwähnt. [vgl. Abschnitt „Aristoteles“ in Michael Erler und Andreas Graeser, Philosophen des Altertums, Von der Frühzeit bis zu Klassik, Darmstadt 2000, S. 163 ff.] Es ist ein Beispiel für einen krassen Wertewandel.

Doch wir brauchen nicht soweit zurückzugehen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich auch bei uns wichtige Werte nachhaltig verändert. Das zeigen frühe Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) in Strafsachen. So wurden Eltern wegen Kuppelei bestraft, wenn sie Verlobte in ihrem Haus miteinander schlafen ließen. Das wurde so begründet: „Normen des Sittengesetzes gelten aus sich selbst heraus; ihre Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze … Ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.“ [BGH, Strafsachen, Großer Senat, Bd. 6, S. 52, 1954, Az.: GSSt 3/53] Homosexualität war damals strafbar. Das Gleiche galt für die „Tubenligatur“ [= Durchtrennung der Eileiter zur dauerhaften Empfängnisverhütung].

Mit allem, was wir bisher besprochen haben, beschäftigen sich mindestens zwei Wissenschaften. Das sind einmal seit den Anfängen der Geschichte die Philosophie und heute die Gehirnforschung. Philosophie heißt übersetzt: Liebe zur Weisheit. Es ist keine Wissenschaft nach heutigem Verständnis. Das Gleiche gilt weithin für die Theologie, selbst für die Werte und unsere Lebensweisheit. Denn philosophische Aussagen lassen sich i.d.R. im Versuch, im Experiment weder widerlegen noch nachweisen. Wenn aber naturwissenschaftliche Forschung philosophische Erkenntnisse belegt oder widerlegt, dann scheidet dieser Bereich aus der Philosophie aus und wechselt zur Wissenschaft. Denken wir an die Hirnforschung oder an die Wissenschaft vom Weltall, die Kosmologie. Manche Vermutungen der griechischen Natur- und anderer Philosophen waren nach heutiger Wissenschaft richtig, andere falsch. [aber: Popper-Kriterium]

Das beschreibt gut der Oxforder Philosoph Anthony Kenny: „Obwohl die Philosophie keine Wissenschaft ist, stand sie im Laufe ihrer Geschichte in enger Beziehung zu den Wissenschaften. Viele Wissensgebiete, die in der Antike und im Mittelalter zur Philosophie gehörten, sind längst eigenständige Wissenschaften geworden.“ [Kenny, Geschichte der abendländischen Philosophie, a.a.O., Bd. I, S. 11] Es ist anzufügen, dass es die modernen Wissenschaften erst seit der Renaissance gibt. Sie sind eine Erfindung der europäischen Neuzeit. Ihre Folgen waren die moderneTechnik und die Industrialisierung.

Wir leben heute in einem wissenschaftsgläubigen Zeitalter. Doch fast zu jeder ernsten Frage gibt es heute zwei oder mehrere Antworten. (Die Frage nach dem freien Willen war ein Beispiel.) Hier stellen sich für den Bürgerstaat und sein Bildungssystem wichtige, grundlegende Fragen. Worin unterscheiden sich Wissenschaft und Bildung? Was hat die Erziehung, was die Bildung zu vermitteln? Wo sind die Grenzen staatlich-obrigkeitlicher Erziehung? Was bedeutet Bürgerschule?

Dazu wird im nächsten Blog-Bericht besprochen: Pornografie: eine Leitperspektive im Bildungsplan?

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