Tagegedanke: „Um den Staat zu erneuern, müssen wir zuerst die Begriffe klären.“ nach Konfuzius Zum Nachdenken über Tags:
Erziehung und Bildung, Weisheit und Wissenschaft bedeuten Unterschiedliches. Wer das nicht erkennt, kann unser Bildungssystem nicht reformieren – und es ist sehr reformbedürftig.
Erziehung vermittelt Werte und Verhaltensweisen. Ein guter und friedlicher Umgang miteinander ist ein Ziel, eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Erwachsene ein weiteres. [§ 1 Kinder- und Jugendhilfegesetz] Das beginnt in frühster Kindheit durch die Eltern.
Bildung will dagegen den Kindern und auch den Erwachsenen helfen, die Welt zu verstehen. Orientierung im Leben, Überblicke und Zusammenhänge sind zu erkennen und zu verstehen. Bildung allein macht den Menschen noch nicht gut.
Bildung ohne Erziehung führt zu Gewalt und Unterdrückung. Das erkannten z.B. Verhaltensforscher, die antiautoritäre Kinderläden mit herkömmlichen Kindergärten verglichen. Und es gibt hochgebildete Verbrecher, Terroristen und Massenmörder.
Wissenschaft will es dagegen ganz genau wissen. Sie dringt bis in die Einzelheiten und Besonderheiten eines Fachgebiets vor.
Bildung ist grundsätzlich schwerer zu vermitteln als Wissenschaft. Denn Bildung verlangt Abstraktion, auf Deutsch Verallgemeinerung. Es wird von den Besonderheiten abgesehen (abstrahiert) und das allen Gemeinsame bei den betrachteten Dingen herausgearbeitet. Abstraktes Denkvermögen ist eine besondere Befähigung. Viele können die letzten wissenschaftlichen Einzelheiten vortragen, aber den Schülern oder Mitmenschen keinen Überblick und keine Zusammenhänge vermitteln. Wirklich gute Wissenschaftler brauchen beides. Sie müssen schnell von einer neu entdeckten Einzelheit zur Gesamtschau umschalten können. Je mehr jemand zum Fachidiot wird, umso schwerer fällt ihm das.
„Es ist ein Beweis hoher Bildung, die größten Dinge auf die einfachste Art zu sagen.“ [Ralph Waldo Emerson [1803–1882]; amerik. Philosoph und Schriftsteller]
Weisheit ist wieder etwas anderes. Die alten Griechen nannten die „Liebe zur Weisheit“ Philosophie; zur Wissenschaft sagten sie dagegen „mathematiké“. Diese Unterscheidung ist treffend. Philosophen mutmaßen und spekulieren viel. Dagegen verlangen Wissenschaftler den geradezu mathematischen Beweis. Im Versuch oder Experiment wollen sie prüfen, ob ihre Theorie stimmt.
Der englische Philosophie-Professor Anthony Kenny hat eine umfassende und gut verständliche „Geschichte der abendländischen Philosophie“ geschrieben. Gleich in der Einführung grenzt er ab: „Viele Wissensgebiete, die in der Antike und im Mittelalter zur Philosophie gehörten, sind längst zu eigenständigen Wissenschaften geworden. Ein Wissenszweig bleibt philosophisch, solange seine Begriffe ungeklärt und seine Methoden umstritten sind.“ [Anthony Kenny, Geschichte der abendländischen Philosophie, Band I, Antike, Darmstadt 2014, S. 11]
Die Philosophie sucht wie die Religion nach dem Sinn des Lebens und der Welt. Ein anderer Philosoph meinte einmal: „Im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren stellen die Kinder mit ihren Worten alle Fragen, die die Philosophie im Laufe der Jahrhunderte gestellt hat.“
Der Deutsche Bildungsrat forderte und erreichte ab 1970 die „Verwissenschaftlichung des Schulsystems“ mit Fachlehrern ab der 1. Grundschulklasse. – Wenn wir unsere Abgrenzung genau durchdenken, dann brauchen die Schüler und damit die Schule alles, nur keine Wissenschaft. Tatsächlich sind seither die Leistungen der Schüler stark zurückgegangen.
Zur Vertiefung:
Schockiert hieß es schon vor Jahren in vielen Zeitungen: „Rechtschreibniveau seit den 1960er Jahren extrem gesunken.“ [Die Zeit vom 13.07.06] Der Würzburger Psychologe und Leiter der Studie, Wolfgang Schneider, wurde dazu zitiert: „Wir haben für die Jugendlichen ein Diktat aus den 1960er Jahren genommen. Würde man das Rechtschreibniveau von damals zum Maßstab nehmen, wären drei Viertel der heutigen Kinder Legastheniker.“ Die Erkenntnisse stammten aus einer Langzeitstudie des Max-Planck-Instituts und der Universität Würzburg; und sie bestätigen die Vermutung, dass die „Krankheit“ Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie) in großen Teilen eine Erfindung und Entschuldigung der heutigen Pädagogen ist.
Da seither wahllos „Wissenschaft“ in die Lehrpläne gepackt wird, kommt das Wesentliche und Wichtige zu kurz. Die Lehrpläne sind überfüllt. Hans Maier, ehem. bayerischer Kultusminister, wurde gefragt, warum die Entrümpelung der Lehrpläne einfach nicht gelingt. Denn das G-8 (Gymnasium in acht Jahren) verlangt das logischerweise. Er sagte im Interview der Süddeutschen Zeitung:
„Das Wort Entrümpelung ist mir im Ohr seit den siebziger Jahren. Aber damals gab es Autoritäten, die sagten: In Geographie muss man das lernen, aber das nicht. Diese Autoritäten haben wir heute nicht mehr. Das Spezialistentum ist ausgeufert, und alle bestehen darauf, dass ihr Thema das Wichtigste ist. Gerade auch die Lehrer, die nun selbst mitwirken an den Lehrplänen.“ So werden vor allem Einzelheiten statt Überblick und Zusammenhänge vermittelt.
Schon Schüler in den ersten Klassen des Gymnasiums haben oft sechs Stunden Schule am Tag. Dann müssen sie Hausaufgaben machen und für viele Tests büffeln. Die Arbeitszeit-Verordnung der EU gilt für alle, sonderbarerweise sogar fürs Militär. Nur für die Schulkinder gilt sie nicht.
Hier ist Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), dem Altvater der Pädagogen, zuzustimmen: „Wer weiß, wie viele Kinder als Opfer der überspannten Weisheit eines Vaters oder Erziehers zugrunde gehen? Glücklich, ihren Grausamkeiten zu entkommen … Menschen, seid menschlich … Liebet die Kindheit, fördert ihre Spiele, ihre Freuden, ihr liebenswürdiges Wesen!“ [Jean-Jacques, Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971 ff., S. 55] Und Clausewitz wusste: „Es war schon immer ein Zeichen der Pedanten mit der Darstellung aller Einzelheiten zu beginnen.“
Meine Cousine, eine Studienrätin im Ruhestand, erklärte: „Nach 5 Jahren sind bei den jungen Leuten nur noch 20 % des Abiturwissens vorhanden; der Rest wurde vergessen.“ Jeder kann das an sich selbst beobachten, vor allem in Bereichen, die uns nicht interessieren und von denen wir nichts wissen wollten.
Schulen sind Bildungseinrichtungen und keine wissenschaftlichen Forschungsinstitute. Sie haben auch einen Erziehungsauftrag.
Der baden-württembergische Kultusminister Mayer-Vorfelder forderte 1981: „Die Lehrer müssen wieder erziehen!“ Da haben alle Lehrer im Ländle aufgeschrien. Einige zogen sogar vor die Gerichte, weil der Minister darunter auch die „christlichen und humanen Werte“ verstand. Und der Spiegel schüttete Hohn und Spott über den Minister, die Südwest-CDU und das Ländle. [Der Spiegel vom 31.08.1981]
Die „antiautoritäre Erziehung“, besser der „antiautoritärer Erziehungsverzicht“ war ein weiteres Übel, das die Bildungsreformer unserem Bildungssystem verpassten. Aus dem Leitspruch „edel sei der Mensch hilfreich und gut“ machten sie das Dogma „edel ist der Mensch hilfreich und gut“. Dabei konnten sie sich sogar auf Rousseau berufen. Sein weltberühmter und einflussreicher Erziehungsroman „Emil oder Über die Erziehung“ (1762) beginnt: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen.“ Hier liegen die Wurzeln des „Erziehungsverzichts."
Eibl-Eibesfeldt hat wie gesagt Kindergärten im deutschsprachigen Raum untersucht. Vor allem hat er „herkömmliche“ Kindergärten mit antiautoritären „Kinderläden“ verglichen. Er machte eine überraschende Feststellung. Die Mädchen konnten sich in herkömmlichen Kindergärten viel besser entwickeln als in antiautoritären Einrichtungen. Denn in letzteren galt das Faustrecht. Die Älteren und die Buben setzten sich rüde und rücksichtslos gegen die Schwächeren und die Mädchen durch. Niemand hinderte sie daran. Es fehlte die Erziehung. [Eibl-Eibesfeldt - Sein Schlüssel zur Verhaltensforschung, hg. v. Wulf Schiefenhövel, Johanna Uher und Renate Grell, München 1993]
Dadurch sind inzwischen auch die „Lehrer am Limit“. Hier nochmals zum Weiterdenken der Link zur Sendung im NDR.