11. Bürgerstaat: Mittlere Reife für alle

Das Ziel „Mittelstand für alle“ setzt voraus, dass alle einen mittleren Bildungsabschluss schaffen. Der heißt heute allgemein „Mittlere Reife“. Er ist die Voraussetzung für den Zugang zu den meisten Berufsausbildungen und zur schulischen Oberstufe (Sekundarstufe II). Wir sind, wie im letzten Blog-Bericht gesagt, der Überzeugung, dass auch bei uns gelingen muss, was Finnland, die Schweiz u.a. erreichen: 95 % haben einen Abschluss der Sekundarstufe II (Abitur oder Mittlere Reife und Berufsabschluss). Ein Viertel oder ein Drittel junger Leute ohne Berufsabschluss wie bei uns ist untragbar (vgl. letzten Blog-Bericht).

Es liegt nicht an einer zu dummen Jugend, sondern an einem zu dummen Schulsystem. Ein Blick in den schulischen Alltag zeigt ein Video des Norddeutschen Rundfunks (NDR). Eine, wie es heißt, gar nicht außergewöhnliche Hamburger Schule wurde besucht: „Lehrer am Limit

Aber auch diejenigen, die einen Abschluss bekommen, haben zu oft nicht die „Ausbildungsreife“. Das wird weithin beklagt. So berichtete „Die Zeit“ am 13.07.2006 über das Ergebnis einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts und der Uni Würzburg: „Wir haben für die Jugendlichen ein Diktat aus den sechziger Jahren genommen. Würde man das Rechtschreibniveau der Schüler von damals zum Maßstab nehmen, wären drei Viertel der heutigen Kinder Legastheniker [Lese- und Rechtschreibschwache].“ Ähnliches gilt fürs Rechnen. Pisa zeigt keine großen Besserungen. Fragen wir nach den Gründen.

Schon durch den Blick ins Klassenzimmer [Lehrer am Limit], aber erst recht durch eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema erkennen wir vier wesentliche Gründe:

1. Die antiautoritäre Erziehung hat zum Erziehungsverlust geführt. 2. Die Verwissenschaftlichung der Schule hat den Abschied vom kind- und altersgerechten Unterricht gebracht. 3. Die neuen Fachlehrer ab der Grundschule nahmen Abschied vom Wesentlichen und Wichtigen. Alle Fächer, aller Stoff im Lehrplan wurden gleich wichtig. Zu kurz kommen nun das Lesen, Schreiben und Rechnen, dann bis zum Abi die Fächer Deutsch, Mathe und Englisch. 4. Viele Klassen und Schulen wurden „multikulturell“. Hier wirken sich die Neuerungen von 1. bis 3. besonders verhängnisvoll aus.

Die Folgen sehen wir heute: Viele Lehrer am Limit, viele Schulabgänger nicht ausbildungs- und berufstauglich.

Lesestoff: Viviane Cismak, Schulfrust, 10 Dinge, die ich an der Schule hasse, Berlin 2011 - dazu die Berliner Zeitung: "Ihr Buch 'Schulfrust' ist die erste umfassende Kritik des Bildungssystems aus Schülersicht." Cismak schildert, was sie vor allem an einem Berliner Gymnasium erlebte.

Viel früher als die Bildungspolitiker, Professoren und Experten haben das die Eltern erkannt. So ergab schon 1993 eine Umfrage der GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) folgende Rangordnung der Bildungs- und Erziehungsziele bei den Eltern:

1. Disziplin 2. Vernünftigen Umgang miteinander 3. Toleranz 4. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit 5. Wissen und breite Allgemeinbildung

In allen Umfragen davor nahm der letzte Punkt, nämlich die Wissensvermittlung, auch bei den Eltern den ersten Platz ein. Das entsprach den Reformzielen der 1970er Jahre mit ihrer allein auf Wissen und Verwissenschaftlichung ausgerichteten Schule. Inzwischen zeigen sich im Schulalltag die Erziehungsverluste samt der Gewalt auf dem Schulhof in solchem Ausmaß, dass sich die Eltern umorientierten.

Wir müssen zwischen Erziehung und Bildung unterscheiden. Als in den 1980er Jahren der baden-württembergische Kultusminister Mayer-Vorfelder auch Erziehung in den Schulen forderte, ging ein Aufschrei nicht nur durchs Ländle, sondern die ganze Republik. Die antiautoritären Intellektuellen wollten keine Erziehung, denn gezielt sollten die bürgerlichen Werte abgeschafft werden. Nur noch wissenschaftliche Bildung sollte es geben, am besten ab dem Kindergarten.

Erziehung vermittelt Werte, wie sie oben in den Punkten 1. bis 4. die Eltern fordern. Bildung schafft dagegen Wissen, wie es die Eltern an 5. Stelle verlangen. Es gibt hochgebildete Terroristen – von der Roten Armeefraktion bis zur Terrorgruppe IS (Islamischer Staat). Bildung allein ist zu wenig. Erziehung ist das erste Recht und die oberste Pflicht der Eltern (Art. 6 GG). Sie müssen endlich in die schulische Erziehung einbezogen und dadurch in die Pflicht genommen werden.

Dann müssen wir Bildung von Wissenschaft unterscheiden. Beide vermitteln Wissen, aber mit unterschiedlichen Zielen. Bildung soll den jungen Menschen, aber auch noch den Erwachsenen helfen, die Welt zu verstehen, sich im Leben zu orientieren. Dazu sind Überblicke und Zusammenhänge wichtig. Wissenschaft will dagegen bis zu den Einzelheiten vordringen und durch Forschung zu neuen Erkenntnissen vorstoßen. Schule ist eine Bildungseinrichtung, kein Forschungsinstitut. Bildung zu vermitteln, ist schwerer als Einzelheiten vorzutragen und in Tests abzuprüfen.

Was erwarten wir von der Schule der Zukunft?

Oberstes strategisches Ziel jeder Gemeinschaft, ja Organisation ist, das langfristige Überleben zu sichern. Das ist für einen Staat zu allererst die Geburtenrate. Als Beitrag der heutigen Schulen dazu ist zu fordern, dass sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Deshalb brauchen wir leistungsfähige und bedarfsgerechte Ganztagsschulen.

Immer noch ein strategisches, aber darunter angesiedeltes Ziel ist, die jungen Menschen in die Erwachsenen- und Erwerbswelt einzugliedern, und zwar in den Mittelstand über die „Mittlere Reife für alle“.

Die unterschiedlichen Begabungen und Neigungen unserer Jugend führen uns zu den benötigten Schulangeboten. Wir brauchen Schulen für die praktisch und für die theoretisch Begabten. Alle sollen sich entfalten können. Das führt zu Technischen und Naturwissenschaftlichen sowie Wirtschaftlichen und Sprachlichen Mittelschulen. Die Technischen und Kaufmännischen Gymnasien brauchen einen Unterbau. Auch an Berufsoberschulen muss das Abi abgelegt werden können. Wir brauchen einen „dualen Weg“ bis zum Hochschulabschluss.

Wir lernen fürs Leben, nicht für die Schule. Was ist dafür unverzichtbar, was nett und schön, wenn es die Jugendlichen können? Das führt zur Unterscheidung von Kernfächern und Bildungsfächern. Kernfächer sind Deutsch, Mathe und Englisch. Sie muss jeder auf einem praxis- und prüfungstauglichen Niveau beherrschen. Das ist am Ende jeder Schulstufe durch zentrale Abschlussprüfungen festzustellen: Grundschulabschluss (ohne Englisch), mittlere Reife, Abitur. Kernfächer sind Lernfächer, jeder Schüler muss den Stoff lernen.

Die übrigen Fächer sind Bildungsfächer. Wir können sie auch Lehrfächer nennen, weil die Lehrer gefordert sind, den Stoff am besten ohne Noten im Wege des „natürlichen Lernens“ zu vermitteln. Hier sollen bei den Jugendlichen Wissendurst und Erfolgslust, Begeisterung und Forscherdrang reifen. Jeder kann etwas, oft steht das nicht im Lehrplan. Die Gemeinschafts-, Gesamt- oder Einheitsschulen werden vielen Begabungen nicht gerecht, sie sind für viele viel zu theorielastig.

Die Erziehung ist ohne Einbeziehung der Eltern nicht zu schaffen. Das zeigt jede nähere Beschäftigung mit der Jugendhilfe in Jugendämtern. Das zeigen auch die Erfahrungen in Finnland. Dazu müssen unsere heutigen staatlichen Obrigkeitsschulen zu Bürgerschulen werden.

Den beratenden Elternbeirat muss ein neuer örtlicher Schulrat ersetzen. Er muss ein echtes Entscheidungsorgan wie ein Gemeinderat oder Kreistag sein. Darin müssen zu einem Drittel Eltern (Erziehungsberechtigte), Lehrer (Fachkräfte) und Gemeinderäte (verantwortlich für die Gemeindepolitik und die Finanzen) sitzen.

Dazu brauchen die Schulen endlich das Selbstverwaltungsrecht, wie es Gemeinden und Landkreise besitzen. Seit Jahrzehnten gibt es dazu Diskussionen und Versprechungen. Umgesetzt wurde nichts Wesentliches. Die Schulpflegschaften in NRW sind Mogelpackungen. Die Bürger im Bürgerstaat sollten sich an fortschrittlichen Beispielen in den Niederlanden oder Dänemark orientieren. Dann werden nur die Ziele (z. B. Niveau der Abschlussprüfungen in den Kernfächern) festgelegt, den Weg zu den Zielen wählen die Schulen durch ihre örtlichen Schulräte mit Drittelparität selbst. Dazu muss die Schulträgerschaft ganz den Kommunen (Gemeinden, Kreise) übertragen werden. Nicht nur wie heute für Gebäude, Hausmeister und Sekretärinnen (sachliche Schulträgerschaft), sondern auch für die pädagogische Schulträgerschaft einschließlich Einstellung der Lehrkräfte müssen sie zuständig sein. (Dass das geht, zeigen die Krankenhäuser. Dort sind auch die Kommunen voll verantwortlich, bis zur Einstellung der Chefärzte.)

Lehrpläne sind dann Empfehlungen, keine Rechtsvorschriften. Wie Sexualkunde oder der Stoff der Kulturfächer vermittelt wird, entscheiden dann die Betroffenen vor Ort im örtlichen Schulrat. Warum sollen die Parteipolitiker im Landtag und die Beamten im Kultusministerium alles besser wissen? Sie dürfen so viel empfehlen, wie sie wollen, entschieden wird durch die Betroffenen. Schließlich heißt es im Grundgesetz: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (Artikel 6 Absatz II Grundgesetz) Ziele und Grundsätze festzulegen, nicht Einzelheiten und ideologische Wahrheiten vorzuschreiben, ist der Auftrag des staatliche Wächteramts. Im Bürgerstaat kann darum durch Wahlen und Abstimmungen gerungen werden. Denn alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, nicht von Parteizentralen oder Parteitagen.

Wenn diese Reform gelungen ist, dann wurde aus der staatlichen Obrigkeitsschule endlich die Bürgerschule. Nicht mehr nur die, die es sich leisten können, Privatschulen zu gründen, alle Bürger haben in Selbstverwaltung „ihre“ Schulen.

Lesestoff: Gerhard Pfreundschuh, Die Mittelschule, Reform der Sekundarstufe I, Heidelberg 2015

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