Die im letzten Blog beschriebenen Missstände sorgten 2012 für einen Aufstand. Dennis Snower, bis heute Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, wurde vom Handelsblatt interviewt. Auch er gehört zu den scharfe Kritikern der mächtigen Fachzeitschriften. Ihn stören nicht nur die hohen Preise und die Marktmacht der Verlage. Er kritisiert vor allem die Verfahren bei der Auswahl der wissenschaftlichen Aufsätze, die zur Veröffentlichung gelangen. Er meint: „Das traditionelle Verfahren gibt den Herausgebern und den Gutachtern zu viel Macht – diese Leute können Gott spielen. Die ethischen Werte, die für Wissenschaftler zentral sein sollten, sind uns abhandengekommen … viele Gutachter arbeiten auch unglaublich langsam und schreiben unfaire Reports. Das hat vermutlich jeder Ökonom schon selbst erlebt. Neue Ideen haben es dadurch sehr schwer.“ [Handelsblatt vom 13.02.2012 S. 18] Es blieb nicht bei Protesten.
Auch Angelsachsen sind mit ihren englischen Fachzeitschriften unzufrieden. Zur gleichen Zeit erschien im Handelsblatt ein weiterer Aufsatz mit dem Titel: „Wie viel darf Wissen kosten? Forscher wollen einen Fachverlag boykottieren, weil dieser angeblich Wissenschaftler und Bibliotheken ausbeutet“. [Handelsblatt vom 13.02.2012, S. 18] Ein Wissenschaftler namens Timothy Growers rief seine Kollegen zum Boykott auf und nach kurzer Zeit hatten sich rund 5.200 Forscher aus zahlreichen Fachrichtungen seinem Aufruf angeschlossen. Sogar die Präsidentin der internationalen Mathematikerunion und Chefherausgeberin einer Fachzeitschrift im Verlag Elsevier, der boykottiert wurde, unterschrieb.
Kritisiert wurden mehrere Dinge. Zum einen würden die Verfasser der Veröffentlichung unentgeltlich, sozusagen ehrenamtlich arbeiten. Für die Verlage sei das Gegenteil der Fall: „Die großen, profitorientierten Wissenschaftsverlage pressen so viel Geld aus der akademischen Welt heraus, wie der Markt hergibt.“ Seit 1999 seien die Gebühren der Bibliotheken für den Zugang zu Zeitschriften um 90 % gestiegen. Die Verlage würden Hochpreispolitik betreiben, ihre Monopolstellung ausnützen und ihre überteuerten Fachblätter nur als Pakete verkaufen. Für die Bibliotheken sei es unwirtschaftlich, einzelne Zeitschriften abzubestellen. (Die Kartellämter schlafen tief.) Der „freie Markt“ führt hier zu Ergebnissen, die Art. 5 III GG (Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre) eindeutig widersprechen.
Eigentlich säßen ja die Wissenschaftler am längeren Hebel. Ohne ihre Arbeit könnten Fachverlage gar nichts veröffentlichen. Die vielbeschworene Wissenschaftsgemeinde ist jedoch zersplittert. Bei ihnen herrscht rücksichtslose Konkurrenz um Lehrstühle, um Bekanntheit und Ansehen in der Wissenschaftler-Gemeinde und Drittmittel der Wirtschaft und der Politik.
Vor allem sei es äußerst schwierig, eine neue Fachzeitschrift am Markt durchzusetzen. Neue Journale brauchten Jahre, um anerkannt und gelesen zu werden. Wie schwierig es ist, neue Zeitschriften herauszugeben, zeigte die European Economic Association (EEA). Diese Vereinigung hatte bis 2002 die Zeitschrift „European Economic Review“ (EER) zusammen mit dem Wissenschaftsverlag Elsevier herausgegeben, den nun Timothy Growers heftig kritisierte. Nach langem Streit kündigte die genannte europäische Wissenschaftsvereinigung (EEA) dem Verlag und gründete 2003 das nicht kommerzielle „Journal of the European Economic Association“ (JEEA). „In einem spektakulären Schritt wechselte das gesamte Herausgebergremium zur neuen Zeitschrift.“ Wissenschaftlich gesehen sei die neue Zeitschrift sehr erfolgreich. Ihre Artikel wurden so häufig zitiert, wie jene der immer noch bestehenden „European Economic Review“ (EER). „Trotzdem ist das JEEA aber noch immer unzureichend in den Bibliotheken vertreten.“ Das liege vor allem an den Bündelungsverträgen, mit denen die Fachverlage die Universitätseinrichtungen knebelten.
Im Juli 2018 berichtete das „Recherchenetzwerk“ von NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung Magazin“, dass mehr als 5000 deutsche Forscher in den vergangenen Jahren ihre Forschungs- und Studienergebnisse in unwissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht hätten. Weltweit seien es etwa 400.000 Forscher gewesen. [Neben allen ARD-Anstalten urteilten so auch die Tageszeitungen, z.B. RNZ, 20.07.2018] Doch wer entscheidet, was unwissenschaftlich ist?
Die Schlussfolgerungen im genannten Handelsblattartikel („Wie viel darf Wissenschaft kosten?“) sind einfach und richtig. Nur staatliche Einrichtungen und entsprechende Gesetze können helfen. In den USA war das „National Institute of Health“ bestrebt, eine Politik des offenen Zugangs durchzusetzen. „Doch einige amerikanische Parlamentarier wollen dies verbieten – und werden dabei von Verlagen wie Elsevier unterstützt.“ Die Verlage sind offensichtlich mächtige und erfolgreiche Spender bei den Wahlen von Personen und Parteien.
Darum kommt der Verfasser Olaf Storbeck zu einem weiteren, gut nachvollziehbaren Schluss: „Wirklich etwas bewegen könnten nur staatliche Forschungsgesellschaften wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die wissenschaftliche Projekte finanzieren. … Die könnten darauf bestehen, dass die von ihnen bezahlte Forschung in freizugänglichen Zeitschriften erscheint.“ [Handelsblatt a.a.O.] Sie könnten auch auf Deutsch als Wissenschaftssprache bestehen. Und es ist eigentlich deutsche und kontinentaleuropäische Tradition, dass bei Marktversagen der Staat eingreift. Bis heute ist nichts geschehen.