18. Der Heidelberger Geist: Schwarmintelligenz statt Herdentrieb

Tagesgedanke: Karl Jaspers, der die längste Zeit in Heidelberg lebte (1906 – 1948), beschreibt den oft beschworenen „Heidelberger Geist“ 1928 so:

„Hier ist eine Atmosphäre, in der das Fremdeste sich berühren kann – ohne sofortigen Blick auf praktische Konsequenzen – in rein geistiger Möglichkeit. Hier sind der Socialist und der Deutschnationale mögliche Freunde, der Katholik und der Protestant, der Russe und der Deutsche. Und hier gibt es eine stillschweigende Voraussetzung eines ritterlichen Verhaltens und eines gemeinsamen Bodens für alles, was wesentlich ist. Hier wird, was im wirklichen Leben in hartem Kampfe um Sein und Nichtsein sich begegnet, auf der Ebene des Möglichen geistig verarbeitet und nach Kräften auf seine Wurzeln geklärt. Heidelberg ist ein Anspruch an die Rücksichtslosigkeit des Fragens, an Einsamkeit und Unabhängigkeit des einzelnen, der den genius loci vernehmen will.“ [zitiert nach: Klaus-Peter Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“ (zur Heidelberger Universitätsgeschichte), Tübingen 2010, S. 499]

Zum Nachdenken über Tags:

So haben wir noch den „Heidelberger Geist“ in meiner Gymnasialzeit erlebt und seit Urgroßvaters Zeiten kennengelernt. Es ist im Grundsatz das, was heute Schwarmintelligenz genannt wird. Das Gegenteil ist der Herdentrieb.

Die Schwarmintelligenz wurde in jüngster Zeit u.a. von Wirtschaftsinformatikern wie Oliver Hinz erforscht. Sie nennen es „Sozial Trading“, weil sie es in den unabhängigen Sozialen Netzwerken des Internets beobachtet haben. Es geht z.B. um Kaufempfehlungen für Aktien. Hinz sagt dazu: „Social Trading boomt. Anlegen mit Hilfe der Internetgemeinde verspricht gute Renditen. Aber nur, solange sich kein Herdentrieb bildet. Dann geht es schief.“ Herdentrieb bedeutet, dass einer oder wenige die Hirten sind und der Rest die Schafherde. Wer „dumme Fragen“ stellt, den beißen die Hirtenhunde, notfalls wird er politisch geschlachtet.

Zur Vertiefung:

Der Heidelberger Geist wird von Jaspers treffend beschrieben. Zuerst wird ein ritterlicher und freundschaftlicher Umgang gepflegt. Dann müssen die Beteiligten im Sinne von Immanuel Kant, den „Mut zur eigenen Meinung“ haben. Das ist auch die Voraussetzung für Schwarmintelligenz. Im nächsten Schritt wird „die Rücksichtslosigkeit des Fragens“ gefordert, um nach Kräften zu den Wurzeln der wesentlichen und wichtigen Dinge vorzudringen.

Dabei sind alle Meinungen wertvoll, müssen geprüft, hinterfragt werden. Die besten Lösungen ergeben sich dadurch, dass im freifliegenden Schwarm die überzeugendsten Ansichten die größten Aussichten auf Erfolg haben. Jeder will für sich die richtige Lösung. Fragen wir immer, wie und warum jemand zu einer völlig anderen Meinung gekommen ist. Womöglich können wir etwas entdecken, das wir übersehen haben. Darum werden in unseren Blog-Berichten alle zitiert, von Sahra Wagenknecht über Merkel und Gabriel bis zu Frauke Petri. Das ist Bürgerstaat. In der Schweiz können äußerste Gegenpole wie Christoph Blocher (SVP) und Jean Ziegler (SP) im selben Buch ein Nachwort schreiben [Wolfgang Koydl, Die Besserkönner, Zürich 2015]. Zuletzt entscheiden die Bürger in Abstimmungen und Wahlen, wohin der Schwarm dann fliegt.

Das Gegenteil ist die „politische Korrektheit“ (aktuell dazu im Focus). Sie macht die Gegenmeinung mundtot und ihre Vertreter zu Bösewichten. Ächten und verbannen oder brandmarken und kaltstellen sind zu allen Zeiten die Kampfmittel der weltlichen und geistlichen Herrscher.

Damit sind wir bei den Gründen für die Meinungssteuerung von oben im Parteienstaat. Es geht um Macht statt um Vernunft. Dabei sind die Ideologien und Religionen für viele Herrscher mehr Machtinstrumente als Wahrheitsinhalte. Es ist der „harte Kampf um Sein und Nichtsein“, der zum gnadenlosen Meinungskrieg führt.

Warum gelingt es den Mächtigen bei der öffentlichen Meinung, den Herdentrieb durchzusetzen? Das fragen wir uns im nächsten Tagesgedanken.

Donnerstag: Der Parteienstaat und das Schweigekartell

up