25. Welches Menschenbild hat der Bürgerstaat? Teil II

Tagesgedanke:

Jeder Mensch braucht Anerkennung und persönliche Achtung. Und er will bei seiner Arbeit Erfolgslust erleben.

Zum Nachdenken über Tags:

In den 1970er Jahren wurde Mihaly Csikszentmihalyi, amerikanischer Professor ungarischer Abkunft, mit seinem Kultbuch „Das Flow-Erlebnis“ weltbekannt [Stuttgart 1987]. Er hatte sich die Frage gestellt, warum manche Menschen mit großer Freude, oft ohne Bezahlung bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Er stieß auf die Erfolgslust, die er „Flow“ nannte.

Dazu hatte er körperliche Anstrengungen bei Bergsteigern und Rocktänzern, aber auch geistige Dauerleistungen bei Schachspielern untersucht. An Chirurgen wurden die Voraussetzungen für die berufliche „Erfolgslust“ nachgewiesen. Vereinfacht dargestellt sind fünf Voraussetzungen nötig, damit sich „Erfolgslust“ einstellt:

1. Es müssen eigenverantwortliche Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sein. Gegenteil: Fremdbestimmung und eintöniger Alltag 2. Es muss ein überschaubarer, eingegrenzter Aufgabenbereich (Stimulusfeld) überantwortet sein. Gegenteil: Zuständigkeitswirrwarr und „organisierte Unverantwortlichkeit“. 3. Es muss ein hohes, aber bewältigbares Risiko vorliegen. „Entscheiden“ heißt immer, handeln unter Unsicherheit. Ohne Risiko keine Verantwortung. Durch erfolgreiche Risikobewältigung wachsen die geistigen und seelischen Kräfte eines Menschen. Gegenteil: Überforderung oder Unterforderung, Vollkasko-Mentalität, „wasserdichte Absicherungen“, Verantwortungsscheue, Stagnation und Reformfeindlichkeit. 4. Es müssen klare Regeln mit unmittelbaren Rückmeldungen über Erfolg und Misserfolg, über „falsch“ und „richtig“ gelten. Gegenteil: Rechtsunsicherheit; ungelöste Zielkonflikte; Widersprüchlichkeiten; niemand weiß, was gilt; keine „klare Linie“. 5. Die Erfolgslust wird vervielfacht durch ihr gemeinsames Erleben in der Gruppe. Dazu braucht die Gruppe gegenseitige Bindungen, gemeinsame Ziele und Werte, Unternehmenskultur und -ethik – Beispiele: Operationsteam beim chirurgischen Eingriff, Fußballmannschaft, Seilschaft beim Bergsteigen. Gegenteil: Egoismus, Unzuverlässigkeit, Unehrlichkeit, Verlust von Bindungen und Werten, Karrierekampf, Gemeinschaftsfeindlichkeit.

Erfolgslust verlangt ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen und den Fähigkeiten. Überforderung führt zu Stress und Panik, Unterforderung zu Aggressionen und Resignation. Im Erfolgskanal wird die Leistungsfähigkeit bis zur persönlichen Grenze weiterentwickelt. Das zeigt das folgende Schaubild. Motivieren heißt, die Erfolgslust organisieren.

Erfolgslust Ziel: Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Fähigkeiten

Zur Vertiefung:

Doch wer in den Alltag von Betrieben und Behörden schaut, sieht leider oft das Gegenteil. Das Gleiche gilt für die Politik. Sie alle halten den Durchschnittsbürger für unbegabt, eher für einen X-Typen.

Schon beim Militär bewiesen die Wehrpflichtigen das Gegenteil. Die Arbeiter und Angestellten aus Mannheim, die Handwerker und Kleinbauern aus Nordbaden waren in freilaufenden Manövern alle hellwache und höchst erfindungsreiche Männer. Und sie gingen bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. [Gerhard Pfreundschuh, Das Militär, Heidelberg 2014, S. 43 ff]. Geführt wurde nach der bewährten deutschen Auftragstaktik (ebenso Österreich, Schweiz). Befohlen wurden nur Aufträge, also Ziele. Den Weg zu den Zielen musste jeder eigenverantwortlich und selbständig finden. Es galten alle Regeln der Erfolgslust. „Die zerstreute Kampfart bedingt, … dass jeder Zug und innerhalb desselben jede Gruppe selbständig die richtigen Mittel zur Durchführung der gestellten oder aus der Gefechtslage sich ergebenden Aufgaben zu finden wisse.“ [so z. B. Exerzierreglement von 1888, zitiert nach Christian Millotat, Eliten der Bundeswehr im Einsatz, Offiziere im Generalstabs- und Admiralstabsdienst, Stegen 2009, S. 129] Damit galt und gilt die deutsche Auftragstaktik vom General bis zum letzten Mann.

In allen anderen Armeen galt ursprünglich das Gegenteil, nämlich die Befehlstaktik. Sie schreibt den Weg zum Ziel bis in die Einzelheiten vor. Heute haben viele Armeen die Auftragstaktik in der Theorie übernommen, mit der Praxis hapert es oft.

Hinzu kam noch etwas: gelernt wurde nicht mit Noten und Tests, sondern durch Üben und nochmals Üben, bis es der letzte Mann konnte. Und alle konnten es schließlich!

Unsere Politik mit ihrer Bürokratie und engmaschigen Gesetzgebung sowie viele Großkonzerne und Unternehmen sind weithin krasse Beispiele für Befehlstaktik.

Am kommenden Dienstag: Bürgerstaat: Individualismus oder Kollektivismus?

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