8. „Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!“

„Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!“ Dieser Aufruf stammt von Paul Kirchhof, dem ‚Professor aus Heidelberg‘, dem langjährigen Verfassungsrichter, dem Kämpfer für die Familien und ein einfaches, gerechtes Steuersystem.

Der Staat gehört erst dann wieder den Bürgern, wenn die Staatsgewalt tatsächlich vom Volk ausgeht und der Wille der Bürger verwirklicht wird. Dazu brauchen wir Volksabstimmungen. Sie ändern grundlegend die politische Kultur und das politische Geschehen. Die Letztentscheidung und damit die politische Macht verlagern sich von den Parteipolitikern auf die Bürger.

Das Bewusstsein und das Verhalten von Bürgern und Politikern ändern sich grundlegend. Demokratie entsteht! Aus dem Kampf der Politiker um die reine Macht wird ein Wettstreit um Überzeugungen und vernünftige Lösungen. „Das Schweizer Modell sprengt ideologische Raster. Denn letzten Endes geht es um etwas sehr Einfaches: dass freie Individuen frei darüber entscheiden können, was das Beste für ihre Gemeinschaft ist.“ (Koydl, Besserkönner, S. 14) – In späteren Blog-Berichten werden wir weitere Bausteine des Bürgerstaats besprechen.

Der Wahlbürger wird zum Stimmbürger, zum „Souverän“, wie die Schweizer sagen. Aus Anspruchstellern werden Verantwortungsträger.

Die „Willensbildung des Volkes“ bekommt den Rang, den ihr auch unser Grundgesetz zuweist. Die Parteien dürfen dabei „mitwirken“, wie es in Art. 21 GG heißt. Doch im Parteienstaat ersetzen die Parteien den Willen des Volkes durch den Willen der partei-politischen Klasse. Wer das Innenleben der Parteien kennt, der weiß, dass von oben nach unten gesteuert, durchregiert wird. Wir werden oft auf die Gründe stoßen, die das verursachen.

Dagegen können die Bürger im Schweizer Bürgerstaat durch Abstimmungen Gesetze erzwingen und jedes Gesetz im Nachhinein kippen. Sie entscheiden sogar, wie viel und wofür sie Steuern bezahlen. Und erst 2002 stimmten sie dem Betritt der Schweiz zur UNO zu.

Das führt zu einem Begründungszwang jeder Gesetzgebung. Es ist erstaunlich, wie offen und umfassend vor Abstimmungen in den Medien, vor allem den öffentlich-rechtlichen diskutiert wird. Es herrscht tatsächlich Chancengleichheit für Befürworter und Gegner eines Volksbegehrens. Über mein Digitalradio und meine, mit ihrer Familie in der Schweiz lebende Tochter beobachte ich oft Volksabstimmungen. Ich bin jedes Mal überrascht von der Offenheit und Ausgewogenheit wie die Befürworter und Gegner zu Wort kamen. Auch das Volk hat mich erstaunt. Denn die Schweizer entscheiden, die Steuern und die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung zu erhöhen. Den gesetzlichen Urlaub zu verlängern und eine Erbschaftssteuer auf Bundesebene einzuführen, haben sie mit 60 % abgelehnt. Sie haben das Land als Ganzes und ihre mittelständische Wirtschaft im Auge. Managergehälter für Banker haben sie gedeckelt. Bei uns wird darüber höchstens debattiert.

Bei uns wird die Berichterstattung von oben gesteuert durch die politische und die „mediale Klasse“, wie Hans Herbert von Arnim unsere immer zentralisiertere und monopolisierte Medienwelt nennt. Von da wird bestimmt, was gesagt werden darf und was „politisch unkorrekt“ ist. Doch wer ins Internet geht, der trifft auf die neue, kritische und ungezügelte Welt der sozialen Netzwerke. Der Meinungsstrom dort unterscheidet sich deutlich von den glatten Partei- und den korrekten Fernsehberichten. Denken wir nur an die europaweite Netz-Bewegung gegen TTIP und TiSA mit Millionen Unterstützern. Das bestürzte sogar viele Lobbyisten, EU-Parlamentarier und Kommissare in Brüssel. Doch die Entwicklung steht erst am Anfang.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel. Wir hätten den Euro nicht oder jedenfalls in besserer und sicherer Form, wenn Kohl ihn nicht im Alleingang hätte durchsetzen können. Zum 85. Geburtstag von Kohl machte die ARD aus dem 6 Stunden dauernden Interview von 2003 zwei 90-minütige Filme. Den ersten Teil zeigten sie in der Nacht zum Mittwoch vom 24./25. März 2015.

Dazu heißt es: „Lange lässt er [Kohl] sich über die Einführung des Euro aus, wie er sich über die Warnungen von Wirtschaftswissenschaftlern hinwegsetzte: „Ich musste es durchsetzen. Es gab damals ja Gerede, eine Währung, in der Italiener und Griechen dabei sind, kann niemals eine ordentliche Währung werden.“ Und dann: „Eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro hätten wir verloren."

Kohl hat nicht nur im Alleingang entschieden, sondern auch gegen seine engsten Berater bei der Bundesbank und im Finanzministerium. Der amerikanische Wirtschaftsprofessor aus Princeton Ashoka Mody schreibt dazu in einem Gastkommentar im Handelsblatt unter der Überschrift „Kohls Erbe ist des Euro Last“: „Aber Kohl wendete sich von seinen engsten Beratern ab. Zu deren Entsetzen stimmte er im Dezember 1991 in Maastricht einem festen Termin für die Einführung des Euros zu.“ Doch es ging weiter. Alle Berater und Fachleute arbeiteten darauf hin, Italien nicht in die erste Gruppe von Mitgliedstaaten aufzunehmen. Wieder entschied Kohl einsam und allein. (Handelsblatt vom 19.12.2014) Und die Südländer freuten sich, ohne Bedingungen, ohne Wenn und Aber dabei zu sein. Wie das Interview von 2003 und Kohls letztes Buch von 2014 zeigen, versteht er bis heute nicht die Zusammenhänge. Das Volk wäre klüger und vorsichtiger gewesen.

Zur griechischen Tragödie schlug der estnische Ministerpräsident Toomas Hendrik Ilves ein „Gedankenexperiment in Sachen Demokratie" vor. Die anderen 18 Mitglieder der Eurozone könnten Referenden abhalten über die Frage: „Erhöhen wir unsere Steuern, um Griechenland zu retten?" „Wie groß", fragt Ilves, „wäre die Wahrscheinlichkeit für ein Ja?" (Spiegel online – abgerufen 10.07.2015) Warum sollen nur die Griechen abstimmen dürfen, ob sie sparen wollen? Warum nicht auch die, die den Konsum mit ihren Steuern bezahlen müssen? Je länger das Trauerspiel läuft, umso teurer wird es. Bei Wirtschaftsunternehmen ist Konkursverschleppung strafbar.

Der Schweizer Begründungszwang und das Damokles-Schwert der Volksabstimmung bewirken, dass auch innerhalb der Parteien das Für und Wider aller Gesetze und politischen Entscheidungen erörtert und geprüft werden. Mit „Basta“ oder „alternativlos“ ist es da nicht getan. Man muss damit vors ganze (!) Volk treten. Bei uns bestimmen Kanzler/in und allerhöchstens ein enger Beraterkreis der Koalition, was der Bundestag dann unter Fraktionszwang zu beschließen hat. Dieser Fraktionszwang ist eindeutig verfassungswidrig.

Denn Artikel 38 GG bestimmt: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Dass die Abgeordneten bei uns trotzdem so „folgsam sind wie auf dem Kasernenhof“ (Kurt Rossa, SPD, 1977 - 1989 Oberstadtdirektor von Köln), hängt mit der Aushebelung der senkrechten Gewaltenteilung zusammen. Die Posten und Ämter in der Regierung, die lukrativen Pfründe bei den Lobbyisten werden nur an die gefügigen Parteigänger vergeben. (Darauf werden wir in späteren Blog-Berichten eingehen.)

Auch das Aussitzen und Vertagen von drängenden Aufgaben und brennenden Problemen ist im Bürgerstaat nicht möglich. Irgendeine Gruppe bringt sie schon vors Volk. Im Parteienstaat wird derartiges wegen ständig anstehender Wahlen oder als politisch nicht durchsetzbar unter den Teppich gekehrt. Der Politologe Michael Hermann sagte es so: „Die direkte Demokratie bringt Unbehagen auf den Tisch, das andernorts unter dem Deckel bleibt.“ Ein Leser der Zürichsee-Zeitung sagte es deutlicher: „Die direkte Demokratie bildet ein Gegengewicht, unter anderem zur Verneinung, Verschleppung, Tabuisierung von Problemen, ein Gegengewicht zur Abgehobenheit, Arroganz, Geldverschleuderung.“ (Koydl, a.a.O., S. 159 ff.)

Auch das bequeme Abschieben der lästigen Angelegenheiten nach oben entfällt, sei es zum Bund oder zur EU. Bei uns ist oft die erste Frage: „Können wir jemand anders verantwortlich machen und die Hände in Unschuld waschen?“ Oft habe ich mit Landesministern über Missstände debattiert. Ein mir gut bekannter Innenminister meinte stets: „Du hast recht. Aber unser Koalitionspartner, die FDP ist unser großes Problem im Bund.“ Ein anderer damaliger Minister gab mir einen ganzen Abend lang in allen kritisierten Punkten recht. Doch er hatte die stehende Ausrede: „Wenn wir das machen, verlieren wir die nächste Wahl. Dazu muss es den Leuten noch viel schlechter gehen.“ Beide Begründungen überzeugten mich nicht. Nach meiner Meinung müssen Missstände sofort aufgegriffen und abgestellt werden. Dann sind sie viel leichter zu beheben. Auch ich hatte meine stehende Redewendung: „Kleinen Kröten kann man den Kopf abbeißen, große bleiben einem im Hals stecken.“

Tatsache ist, dass die Parteipolitiker, die schwierigen, angeblich unpopulären Aufgaben aufschieben. Denn es gibt einen ganz zentralen Punkt, warum die Bedürfnisse und Ziele der heutigen Politiker und die der Bürger in Gegensatz geraten sind. Helmut Schmidt, unser Alt-Bundeskanzler, hat es ausgesprochen: „Die größte Fehlkonstruktion in der Demokratie besteht darin, dass das wichtigste Ziel der meisten Politiker ist, wiedergewählt zu werden.“ (Handelsblatt, 02.11.2012, S. 52)

„Die Rente ist sicher!“ plakatierte der Sozialminister Norbert Blüm fernsehwirksam, als genau das nicht mehr der Fall war und das Volk es spürte, unruhig wurde. In Fachzeitschriften war die Wahrheit zu lesen; und ich wunderte mich damals über die Unverfrorenheit. Aber Kohl und er wollten Wahlen gewinnen – sonst nichts. So dachten und tuschelten auch die alten SED-Funktionäre: „Mich überlebt die DDR noch.“ Doch der Zusammenbruch kam schneller als gedacht.

Auch das Verhalten und Bewusstsein der Bürger verändert sich, wenn sie vom machtlosen Anspruchsteller zum entscheidenden Verantwortungsträger aufsteigen. Und die Erfahrung zeigt: Sie werden der Aufgabe gerecht, und zwar besser als Berufs- und Parteipolitiker.

Sie werden vor allem selbstbewusster. Der Souverän weiß, dass er Bedeutung hat und von ‚denen da oben‘ ernst genommen wird. Ja, eigentlich gibt es ‚die da oben‘ gar nicht. Denn oben steht das Volk. Ihm sollten die Politiker dienen.

Die nächste Folge ist, dass die Bürger sich mit dem Staat gleichsetzen. „Wenn Deutsche die Schweiz kritisieren, empfinden wir das als persönlichen, direkt gegen uns gerichteten Affront. Denn wir unterscheiden nicht zwischen uns und dem Staat. In der direkten Demokratie sind wir der Staat.“ Die Worte stammen von Jean-Daniel Geber einem angesehenen Schweizer Ökonom und Politiker (Koydl, a.a.O., S. 144).

Damit haben wir eine neue Begriffsbestimmung für den Staat gefunden.

Der Staat ist die höchste Form der Selbstorganisation der Bürger.

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