26. Bürgerstaat: Individualismus oder Kollektivismus?

Tagesgedanke: Im Bürgerstaat, einer direkten Demokratie, lösen die Bürger den Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus auf. Zum Nachdenken über Tags:

Die Liberalen vertreten einen strikten Individualismus. Sie meinen, jeder müsse seine ganz persönlichen und eigensüchtigen Bedürfnisse verfolgen. Adam Smith, der Vater aller Liberalen, liefert dazu in seinem zeitlosen Weltbestseller „Vom Wohlstand der Nationen“ (1776) das klassische, oft zitierte Handwerker-Beispiel: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe …“ [Adam Smit, Der Wohlstand der Nationen, Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1974, S. 17]

Diese Eigenliebe aller würde zum größten Wohlstand und zur größten Freiheit führen. Die Summe der Einzelnutzen bringe den größten Gemeinnutzen.

Nicht alle denken so. Eine buddhistische Weisheit glaubt an das Gegenteil: „Was immer es an Freuden auf der Welt gibt, es entsteht aus dem Wunsch nach dem Wohl der anderen. Was immer es an Leiden auf der Welt gibt, es entsteht aus dem Wunsch nach dem eigenen Wohl.“ [Prothero, Stephan, Die neun Weltreligionen, was sie eint, was sie trennt, München 2011, S. 223]

So ähnlich denken auch die Sozialisten, von Karl Marx bis heute: Der Mensch ist von Natur und in Urgesellschaften nur gut. Doch Geld und Eigentum verderben den Charakter, machen egoistisch. Solange der Endkommunismus ohne Eigentum und ohne Staat noch nicht errichtet ist, helfen nur internationale Solidarität und kollektive Verantwortung. In kapitalistischen Gesellschaften müssen staatliche Eingriffe ständig für mehr soziale Gerechtigkeit, d. h. größte Gleichheit, kämpfen.

Der Bürgerstaat, d.h. die direkte Demokratie, bringt Eigennutz und Gemeinnutz in Einklang. Denn die Gesamtheit der Bürger, die Allgemeinheit kann ihr allgemeines Wohl durchsetzen. „Freie Individuen können frei darüber entscheiden, was das Beste für ihre Gemeinschaft ist.“ Volksbegehren und -abstimmungen sprengen die ideologischen Raster. [Wolfgang Koydl, Die Besserkönner, Was die Schweiz so besonders macht, Zürich 2014, S. 14]

Zur Vertiefung:

Wohin führen die äußerst gegensätzlichen Weltanschauungen?

Der bedingungslose Eigennutz samt ungebremster Selbstverwirklichung steuert uns geradewegs in die Umweltkatastrophe. Der Club of Rome veröffentlichte 1973 seinen Bericht „Grenzen des Wachstums“; Herbert Gruhl schrieb 1978 sein Buch „Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik“. Gruhl wurde aus der CDU gedrängt; die Grünen griffen erfolgreich das Thema auf. Der Neoliberalismus liefert keine überzeugenden Antworten. Christiane Nüsslein-Volhard, Biologin und Nobelpreisträgerin, spricht vom „Naturgesetz des Wachstums bis zur Katastrophe“. Nur Eigennutz führt nicht zu höchstem Gesamtnutzen.

Das nächste Unglück im Kapitalismus hat schon Karl Marx erkannt. Wie in freier Wildbahn fressen die Großen die Kleinen. Kapital und Macht ballen sich in immer weniger Händen zusammen. Jüngst hat Thomas Piketty mit seinem dicken Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ weltweites Aufsehen erregt. Er zeigt in langen Zeitreihen, wie sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet. Doch das Buch hat wie alle heutigen Wirtschaftsbücher einen großen Nachteil. Er übersieht die „Geldschöpfung ohne Wertschöpfung“, die etwa seit 1990 zu einer rasanten Umverteilung von unten nach oben und langfristig zum Ausbluten des Mittelstands führt.

Nun ist der Kollektivismus von Sozialisten, aber auch von Nationalsozialisten ebenfalls keine Lösung. Er unterdrückt die persönlichen Begabungen, die Freiheit und das Streben der Menschen nach Erfolg. Warum soll ich mehr und besser arbeiten, wenn der Faule genauso viel bekommt? Doch das Schlimmste ist der Zentralismus, zu dem der Kollektivismus führt, wenn Einheits- oder Kartellparteien die Diktatur von oben errichten. Dann haben wir die totale Bevormundung und den Herdentrieb. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, sagten die Nationalsozialisten. Im Realsozialismus betreibt ein Kollektiv die Kolchosen und VEB (volkseigenen Betriebe). Doch an der Spitze der Kollektive stehen eben Kommissare, Abgesandte der Parteispitze. Einheitsparteien werden von oben nach unten regiert. Das ist das Gegenteil vom Bürgerstaat.

Der Bürgerstaat ist die höchste Form der Selbstorganisation der Bürger. Aus den Untertanen des Obrigkeitsstaats oder den Bittstellern im Sozialstaat werden Verantwortungsträger. Der Staat gehört den Bürgern, sein Wohl und Wehe ist ihr Wohl und Wehe. Der Blickwinkel und das Staatsverständnis der Bürger ändern sich. Der Gesamterfolg des Bürgerstaats erhöht für jeden den persönlichen Erfolg.

Stammesgeschichtlich haben die Menschen in Gruppen, nicht als Einzelkämpfer überlebt. Gemeinsam sind Erfolge möglich, die der Einzelne nie erreichen kann. Nicht die Vereinzelung, sondern die Gruppe gibt soziale Sicherheit. Damit werden urmenschliche Bedürfnisse befriedigt, nämlich der Bindungstrieb (vgl. Eltern-Kind-Beziehung, Dazugehörigkeit). Die Sicherheit in der Gruppe, die Verlässlichkeit und Hilfe in der Not sind weitere Gruppen-Werte. Dabei bedeutet „Bindung" die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und ihren Werten. Denken wir einfach an eine gute Familie.

Funktionierende Gemeinschaften brauchen gegenseitiges Vertrauen und Durchschaubarkeit. Es müssen Offenheit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit herrschen. Mündige Bürger verlangen eine umfassende, ungefilterte Berichterstattung in den Medien, um richtig urteilen, wählen und abstimmen zu können. Nur das schafft Vertrauen. Das sind die natürlichen Werte und damit die Ethik jeder Gruppe. Tarnen, Täuschen und Triumphieren sind egoistisch und bei Gefahren tödlich. Sie gelten seit jeher gegenüber dem Feind. Dadurch sind Freund und Feind zu unterscheiden. [Klaus Dehner, Lust an Moral, Die natürliche Sehnsucht nach Werten, Darmstadt 1998]

Gerecht ist nicht, wenn alle das Gleiche bekommen. Gerecht ist, wenn die Leistung für die Gruppe der Gegenleistung von der Gruppe entspricht. Dann lohnen sich Arbeit und Anstrengung. Eine Gemeinschaft hat die besten Überlebenschancen, in der jeder seine eigenen Begabungen bestmöglich einbringen kann. Dann erst wird die Summe der Einzelnutzen zum größten Gesamtnutzen.

Auch die Wahl der Fähigsten zu Führungskräften erhöht den Erfolg und die gemeinsamen Überlebenschancen. Ist das im heutigen Parteienstaat so? [Schon die Untersuchung von Erwin und Ute Scheuch beweist das Gegenteil: Cliquen, Klüngel, Karrieren, Über den Verfall der politischen Parteien - eine Studie, Reinbek 1992]

Das strategische Ziel unseres Bürgerstaats und jeder Organisation ist das langfristige Überleben. Da im 21. Jahrhundert neue Großmächte die Weltpolitik bestimmen, können wir nur in einem gemeinsamen Europa in Frieden und Freiheit überleben. Damit gelten zwei weitere Grundsätze:

- Das oberste strategische Ziel europäischer Politik ist das langfristige Überleben Europas, seiner Kultur und seiner Nationen in Frieden und Freiheit bei angemessenem Wohlstand. - In der „Welt der Kulturen“ des 21. Jahrhunderts muss Europa als „ehrlicher Makler“ (Bismarck) aktiv für den Weltfrieden eintreten.

Lesestoff:

Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie menschlichen Verhaltens, München 1984

Wulf Schiefenhövel, Johanna Uher, Renate Krell (Hg.), Eibl-Eibesfeldt, Sein Schlüssel zur Verhaltensforschung, München 1993 (anschaulich und reich bebildert)

Klaus Dehner, Lust an Moral, Die natürliche Sehnsucht nach Werten, Darmstadt 1998

Am kommenden Dienstag: Gab es liberale oder kommunistische Urgesellschaften?

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