Wir erleben gegenwärtig ein Politikversagen: die Unfähigkeit der Politiker für brennende Fragen Lösungen zu finden und durchzusetzen.
Zum Nachdenken über Tags:Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat diese Zwangslage des Parteienstaats schon 1983 erkannt: „Zwischen der Macht der Parteien im Staat einerseits und ihrer Befähigung zur Lösung der Probleme andererseits hat sich eine breite Kluft aufgetan. Dieses Problem zu lösen, ist unsere zentrale verfassungspolitische Aufgabe. Sie entscheidet nicht nur über die Zukunft der Parteien, sondern über das Schicksal unserer Demokratie überhaut.“ [Richard von Weizsäcker, Die deutsche Geschichte geht weiter, Berlin 1983, S. 154 f]
Sein Nachfolger Roman Herzog hat dann nach den Ursachen gesucht. Er sieht „Das Patt der politischen Lager“ als „Die große Bremse“. [Roman Herzog, Strukturmängel der Verfassung? Erfahrungen mit dem Grundgesetz, München 2000, S. 62 ff]
Selbst kleinste Wählerwanderungen können der Regierung die Mehrheit und die Macht kosten. Daher wird eine Regierung, „die nicht von überirdischen Motiven angetrieben ist“, nichts tun, was ihren knappen Vorsprung gefährden könnte. Und Herzog erkennt: „Es versteht sich fast von selbst, dass das auf Dauer zu mehr oder minder großer Inaktivität führt.“ [S. 67] Und was sagen und wollen die Bürger nach Herzog? „Reformen ja und möglichst sofort, aber bitte bei den anderen!“
Und er empfiehlt: „Der ‚Rück‘, von dem in den letzten Jahren so oft geredet worden ist, müsste nicht nur durch die politischen Eliten, sondern auch durch das gesamte deutsche Volk gehen.“
Zur Vertiefung:Aufgrund meiner lebenslangen Berufserfahrung als Kommunalpolitiker halte ich den Begriff „politische Eliten“ für falsch. Diese haben wir nicht. Ich bin sogar der Meinung, wir brauchen sie nicht. Denn wo immer ich mit den ganz normalen Bürgern über Gesellschaft und Wirtschaft, Politik und Recht redete, erlebte ich erstaunlich klare und gute Urteile, weniger eingefahrene Ideologien als bei Parteipolitikern und eine sehr wache Beobachtungsgabe.
Vor allem gehen vernünftige Meinungen in der Regel quer durch die Wählerschaft aller Parteien (nicht der Parteimitglieder!). So ist es z.B. derzeit bei der Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht.
„Zwei Drittel der Deutschen für ein Pflichtjahr“, meldete erstaunt die Wochenzeitung [Die Zeit online, 10.08.2018, 1.143 Kommentare].
„Eine einjährige Dienstpflicht für alle Männer und Frauen? Dieser Vorschlag kommt bei den Deutschen gut an: 68 % der Befragten würden eine solche Dienstpflicht begrüßen – und eine Mehrheit bei Anhängern aller Parteien. Am größten ist sie bei Anhängern von Union (77 %) und AfD (72 %). Aber auch zwei Drittel der Anhänger von SPD (62 %), FDP (65 %) und Grünen (66 %) und die Hälfte der Linke-Anhänger (52 %) befürworten den Vorschlag.“ [RNZ, 12.08.2018]
Die frisch ernannte CDU-Generalin Kramp-Karrenbauer hatte die Idee von ihrer „Zuhör-Tour“ mitgebracht und sofort eine allgemeine Debatte ausgelöst. Doch alle Parteien hielten sich sehr zurück. Kein Spitzenpolitiker bezog eindeutig Stellung. „Abwarten erscheint mir weise“, sagten 2007 auch Bernanke, der Chef der US-Zentralbank, und er und seine Kollegen „rutschten blind in die große Finanzkrise“. [Handelsblatt, 24.01.2013, S. 31]
Selbst die CDU-Generalin meinte, man müsse nun abwarten, wie die Diskussion laufe. Vielleicht werde auch nichts aus der Idee. Undenkbar, dass Adenauer, Erhard, Helmut Schmidt u.a. so zaudernd für ihre Politik geworben hätten. Da gab es noch hitzige Bundestagsdebatten um die Wiederbewaffnung. Und die Bundestagswahl 1957, ein Jahr nach Einführung der Wehrpflicht, gewann Adenauer mit absoluter Mehrheit.
Heute lesen wir in den Zeitungen und hören von den Bürgern: „Wir wissen nicht für was die Volksparteien CDU oder SPD stehen.“ Das zeigt, die Bürger spüren, was von Weizsäcker und Herzog beklagten.
Ein weiteres Beispiel war das Rauchverbot in Bayerns Gaststätten. Die Auseinandersetzung über die Gesundheitsgefahren lief auf vollen Touren. So waren die Überzeugungstäter der kleinen ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei) mit einer Volksabstimmung in Bayern erfolgreich.
Doch hauptberufliche Parteipolitiker denken ganz anders. Sie fürchten, dass der betroffene Teil ihrer Wähler (z.B. Raucher) sie nicht mehr wählt oder nicht zur Wahl geht. Das führte zum Mandatsverlust. Damit kommt es zum Nichts-Tun und Stillstand.
Hier kann nur die Schweizer Lösung weiterhelfen: Das Volk muss an der Urne den Gordischen Knoten durchschlagen. Es muss als Souverän und Träger der Staatsgewalt in Volksentscheidungen Patts und Blockaden auflösen, Pleiten verhindern.