27. Die Verflüchtigung der Volkssouveränität

Die Verflüchtigung der Volkssouveränität ist eine große Gefahr, über die wir gerade im Jahr der Europawahl nachdenken sollten; nicht weil wir gegen Europa sind, sondern weil wir die europäische Einigung retten wollen. Wir müssen die EU den Bürokraten nehmen und den Bürgern zurückgeben. Auch die 70-jährige Wiederkehr des Inkrafttretens unseres Grundgesetzes (23.05.1949) ist ein Anlass, darüber nachzudenken.

„Erosion von Demokratie und Rechtsstaat?“ war der Titel der „17. Speyerer Demokratietagung“ (26. / 27.18.2017).  [Tagungsband, Hg. Hans Herbert von Arnim, Berlin 2018, = Bd. 235 der Schriftenreihe der Universität Speyer] – Aufgezeigt wurden einige schwerwiegende, ja verfassungswidrige Fehlentwicklungen. So ging es um die Grundwerte des Art. 20 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Wohl gemerkt, das Volk übt die Staatsgewalt unmittelbar oder mittelbar durch die drei Organe aus. Darum steht auch über jedem Gerichtsurteil „Im Namen des Volkes!“

Das haben viele offensichtlich vergessen. Die in Art. 20 genannten Abstimmungen wurden dem Volk auf Bundesebenen bis heute verweigert. Darüber hinaus ist der Art. 20 GG durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 III GG nochmals eigens abgesichert: „Eine Änderung des GG, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

Nun kann gezeigt werden, dass inzwischen weithin nicht einmal unsere gewählten Volksvertretungen, Bundes- und Landtage, sondern die Brüsseler Kommissare und Bürokraten die meiste Staatsgewalt ausüben oder bestimmen, wie sie auszuüben ist. Das Ganze hat inzwischen eine neue Stufe erreicht, weil Brüssel klammheimlich Hoheitsrechte, also Gesetzgebungsbefugnisse, weiterüberträgt, z.B. an internationale Vertragsgremien von CETA [= Freihandelsabkommen EU-Kanada]. Auch das ist, im Folgenden zu zeigen.

Der kürzlich in den Ruhestand verabschiedete Bundesverfassungsrichter Ferdinand Kirchhof hat am 21.12.2017 in der FAZ darstellt, was viele seit Jahrzehnten beobachten:

„Man darf davon ausgehen, dass inzwischen 60 bis 70 Prozent der in der deutschen Rechtsordnung verbindlichen Normen von der Europäischen Union veranlasst oder bestimmt werden. Dieser immense Einfluss auf das nationale Recht wirft die Frage nach ihrer parlamentarischen Legitimation auf. … Von Oktober 2013 bis Oktober 2016 haben den Deutschen Bundestag 64.285 EU-Dokumente erreicht, also 1785 pro Monat.“ [FAZ.NET Kiosk, 21.12.2017]

Die EU verhält sich, wie wenn ihr zu dieser Vorschriftenflut umfassend Hoheitsrechte von den Mitgliedsstaaten übertragen worden wären. Das ist nicht der Fall und wäre auch verfassungswidrig.

Denn nach Art. 23 GG dürfen Hoheitsrechte nur durch ein Gesetz als „begrenzte Einzelermächtigung“ auf die EU übertragen werden. Die Einzelermächtigung muss den Grundsätzen der Bestimmtheit und Notwendigkeit (Subsidiarität) entsprechen. [Wolfgang Weiß, Kann Freihandel Demokratie und Rechtsstaat gefährden? Beiträge 17. Speyerer Demokratietagung, S. 36 ff] Das bedeutet, Art, Umfang und Reichweite müssen in der Ermächtigung erkennbar abgesteckt sein.

Das Gleiche gilt für die Weiterübertragung von der EU auf völkerrechtliche Gremien wie CETA-Ausschüsse, Schiedsgerichte u.ä. Der Speyerer Prof. Weiß und andere Völkerrechtler gehen davon aus, dass die EU-Praxis und die normsetzenden CETA-Ausschüsse sowohl unserem Grundgesetz als auch dem EU-Vertragsrecht widersprechen.

Wir erleben eine umfassende Rechtsentstehung ohne staatliche oder parlamentarische Willensbildung (so auch Ferdinand Kirchhof). Hinzu kommt ein Weiteres. Wolfgang Koydl, langjähriger Journalist der Süddeutschen Zeitung, hat Jean Claude Junker zitiert, wie er über die EU-Trickkiste plaudert und das Brüsseler Vorgehen beschreibt:

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob etwas passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei und keine Aufstände gibt, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ [Wolfgang Koydl, Die Besserkönner – Was die Schweiz so besonders macht, Zürich 2014, S. 147]

Ferdinand Kirchhof hat dieses Verfahren juristisch sauber nachgewiesen:

„Ihre Distanz zu den Völkern Europas verleitet sie [= EU], Richtlinien zu erlassen, die sofort geltendes Recht werden, aber erst innerhalb von drei Jahren in nationales Gesetz umgesetzt werden müssen. Wenn nationale Umsetzungsgesetze dann etliche Jahre später auf Empörung in den Mitgliedstaaten stoßen, verweist Europa auf eine schon längst geltende Rechtslage und jeglicher Protest dagegen verpufft. Die Taktik der unbemerkten Bildung bindenden Rechts ist nicht Zufall, sondern hat Methode. Diese Technik weicht aber dem Volkswillen aus und schleicht europäische Regeln in nationale Rechtsordnungen ein. Dem demokratischen Ideal einer Hoheitsgewalt, die vom Volke ausgeht, genügt sie nicht.“ [FAZ.NET Kiosk, 21.12.2017]

Wenn sich Parlamente weigern, die Umsetzung zu beschließen, folgen EU-Vertragsverletzungs-verfahren – und der EuGH [Europäischer Gerichtshof] gab bisher immer der EU-Bürokratie Recht. Ferdinand Kirchhof empfiehlt als Gegenmittel Volksabstimmungen über wesentliche Fragen wie EU-Erweiterungen, Vertragsänderungen oder das Eingehen monetärer Verpflichtungen.

Die Ausschaltung sowohl des Volks, als auch der Volksvertretungen trifft das Herz von Demokratie und Rechtsstaat. Sogar die gewählten Politiker sind damit nicht mehr dafür zuständig zu bestimmen, was mit dem Volk geschieht. Das bedeutet, es werden die Parlamente und damit auch die Staatsgewalt, die vom Volk ausgeht, außer Kraft gesetzt.

Diese Vorgehensweise wollten auch die Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP, TiSA). Wolfgang Weiß zeigt, dass das CETA-Abkommen es bereits tut. Es wurden Hoheitsrechte von der EU auf geheim (!) tagende Vertragsausschüsse weiterübertragen. Dort sitzen keine demokratisch legitimierten Vertreter, sondern Lobbyisten und Bürokraten wie in Zeiten des monarchischen Polizeistaats. Wolfgang Weiß kommt zu dem Ergebnis: „Die darin liegende Übertragung von Hoheitszuständigkeiten wird als Gefährdung unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung angesehen. Vorliegender Beitrag geht dieser Kritik nach und zeigt ihre Berechtigung …“ [Weiß, a.a.O., S. 70]

Wir alle müssen nach Gegenmitteln und Lösungen zu suchen. Denn wir brauchen Europa; aber noch mehr braucht Europa die Bürger und ihre Zustimmung zu diesem und anderen Großvorhaben des 21. Jahrhunderts.

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