16. Freiheit im Bürgerstaat

‚Freiheit‘ ist wie ‚Gleichheit‘ ein zentraler Begriff der Französischen Revolution (1789), des Liberalismus und des Sozialismus. Wie bei der ‚Gleichheit‘ stellt sich sofort die Frage, ob die ‚Freiheit‘ kulturbedingt, also zeit- und raumabhängig ist oder ob sie absolut, ewig gleich und universal ist.

Tatsächlich hallen auch die Rufe nach Freiheit durch die Jahrhunderte der europäischen und deutschen Geschichte. Und die Antwort darauf war nicht gleich, sie fiel in jedem Jahrhundert anders aus.

‚Frei‘ wollten im Früh- und Hochmittelalter die Lehensleute genauso sein wie danach die Menschen der Ständeordnung. Nach Freiheit riefen die Bauern und die Handwerker, aber auch die Fürsten gegenüber dem Kaiser. Jeder forderte ‚seine Freiheit‘ (iura et libertates).

Im bürgerlichen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts soll mit den Grundrechten ein staatsfreier Raum geschaffen werden, in dem sich der Einzelne persönlich und wirtschaftlich entfalten kann. Das wird ‚bürgerliche Freiheit‘ genannt. Die Mitwirkung an der Regierung, die ‚politische Freiheit‘, war nicht vorgesehen. Die Volksvertretungen (Land- und Reichstage) konnten nur die allgemeinen und für alle gleichen Gesetze zuerst im Einvernehmen mit dem Landesherrn und später allein beschließen.

Auch unser heutiger Rechtsstaat ist nach dem Verständnis unseres Grundgesetzes der Gesellschaft übergeordnet. Er ist Hoheits- oder Obrigkeitsstaat. Diese theoretische Trennung von Staat und Gesellschaft war gegen den Landesherrn und seine hoheitliche Verwaltung gerichtet. Insbesondere der Staatsrechtler Lorenz von Stein hat sie Mitte des 19. Jahrhunderts ins Staatsrecht eingeführt.[Fußnoten am Textende]

Der Landesherr und sein Hofstaat sind gegangen, die Parteien nehmen im Parteienstaat diese Stelle ein. Zur Diktatur wird das Ganze, wenn eine von oben beherrschte Einheitspartei (KP, NSDAP usw.) sich den Staat zur Beute macht. Eine Vorstufe dazu ist es, wenn sich wenige von oben gesteuerte Parteien zu ‚Kartellparteien‘ (Hans Herbert von Arnim) zusammenschließen. Dann wird den Bürgern eine echte Wahl oder Alternative genommen. Sie können wählen, wen sie wollen, die Politik ändert sich nicht.

Dagegen helfen nur Volksabstimmungen. Da sie in der Schweiz möglich sind, haben wir dort einen Bürgerstaat und keinen Parteienstaat. Aus der ‚bürgerlichen Freiheit‘ wird dann die ‚politische Freiheit‘, erst sie bringt politische Selbstbestimmung und Mitwirkung der Bürger.

Der Bürgerstaat ist dann die zeitgemäße europäische Fortentwicklung des Rechtsstaats.

Damit kommen wir zur nächsten Frage: Was ist ‚Freiheit im Bürgerstaat‘? Worin ist sie anders als im Neoliberalismus, im Sozialismus oder im Parteienstaat?

Wir müssen nun der Reihe nach einige allgemeine, d.h. abstrakte Merkmale der ‚Freiheit‘ herausarbeiten und uns jeweils fragen, wie sie in einem zeitgemäßen, europäischen ‚Bürgerstaat‘ aussehen sollten.

Im Überblick sind dies:

  1. Freiheit ist ein gesellschaftlicher und politischer Begriff.
  2. Freiheit ist Selbstbestimmung und Selbstordnung.
  3. Freiheit ist Machtbegrenzung für die Führungskräfte.
  4. Freiheit ist Teilhabe und Mitwirkung der mündigen Bürger.
  5. Freiheit braucht den zeitgemäßen Wandel.

Die Antworten sollten so ausfallen, dass der Bürgerstaat zur ‚höchsten Form der Selbstorganisation der Bürger‘ wird.

1. Freiheit ist ein gesellschaftlicher und politischer Begriff

Bei einer Besichtigung der Audi-Werke in Neckarsulm begann vor Jahren der Firmenvertreter die Führung mit den Worten: „Wir geben den Bürgern mit dem Auto ein Stück Bewegungsfreiheit. Wir stellen ein Stück Freiheit her.“ Doch inzwischen bringen immer mehr Autos immer mehr Stau. Und im Stau sind alle unfrei, bewegungslos.

Das zeigt uns, wann uns die ‚Freiheit‘ oder die ‚Unfreiheit‘ überhaupt erst bewusst werden. Das ist immer dann der Fall, wenn dadurch Rechte und Bedürfnisse von uns oder anderen betroffen sind. Dann wird die Freiheitsfrage rechtlich oder politisch bedeutsam – spruchreif. Freies Handeln, Bewegen oder Unterlassen, das niemand stört, ist unerheblich. Erst wenn die Innenstadt verstopft ist, kommt es zum Gegensatz von Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger. Es wird politisch! – Wir sehen, wie abhängig von der Zeit und vom Raum die Freiheitsfrage ist.

Jeder möchte sich möglichst unbegrenzt entfalten. Doch genau dann, wenn sein Entfaltungsdrang den gleichen Bestrebungen anderer Menschen begegnet, kommt es zur Frage nach der gesellschaftlichen, rechtlichen und schließlich politischen Freiheit. Besitze ich nach der geltenden Ordnung das Recht, in Frieden und Freundschaft meinen Anspruch einzufordern, oder ist der Mitmensch im Recht, der sich dagegen stemmt?

Wenn die geltende Rechtsordnung meinem Freiheitsbestreben keinen Raum gibt, dann kann die politische Frage auftauchen: Muss die Rechtsordnung so geändert werden, dass meine Enge und Einschränkungen zulasten der Rechte anderer Gesellschaftsmitglieder derart aufgebrochen werden, dass ich dadurch ‚freier‘ werde? Denn Politik heißt, den notwendigen, zeitgemäßen Wandel durchzuführen.

Mit rein individualistischem oder kollektivistischem Denken lässt sich die Freiheitfrage nicht lösen. (vgl. Tagesgedanke: 26. Bürgerstaat: Individualismus oder Kollektivismus?)

Damit haben wir das erste Merkmal von ‚Freiheit‘ geklärt: Sie ist (1.) ein gesellschaftlicher und politischer Begriff. Freiheit ohne Gewalt und Krieg setzt eine weithin anerkannte Rechtsgemeinschaft voraus.

Das wird uns auch verdeutlicht, wenn wir nach der Herkunft, nach der sprachlichen Wurzel des Wortes ‚frei‘ fragen. Danach heißt ‚frei‘ ursprünglich ‚lieb‘, ‚blutsverwandt‘. In der Bedeutung ‚lieb‘, ‚freundlich‘ hat sich fri (frei) im Ostschweizerischen bis heute erhalten. ‚Frei‘ hat mit den Wörtern freien (heiraten), Freund und Friede eine gemeinsame Wurzel.2 Von Anfang an hat das Wort bei uns eine gesellschaftliche, gemeinschaftliche oder genossenschaftliche Bedeutung.

Bevor der preußische Militärstaat beim Wiener Kongress (1815) 3 und im Deutschen Krieg (1866) sich den größten Teil Deutschlands einverleibte und dann 1871 ein ‚Preußen-Deutschland‘ gründete, galt die ‚alte deutsche Freiheit‘ in ganz Europa als sprichwörtlich. Hans Maier, ein besonders guter Kenner unserer Verfassungsgeschichte, sagt es so: „Daß die Freiheit Europas aus den Wäldern Germaniens gekommen sei, war seit Montesquieu ein Gemeinplatz der Gebildeten. Allenfalls den Polen traute man eine so heftige, fast anarchische Freiheitsliebe zu wie den Deutschen.“ 4

2. Freiheit ist Selbstbestimmung und Selbstordnung

Eine demokratisch entstandene und abgesicherte Rechtsordnung muss dafür sorgen, dass die Freiheit nicht aus der Gesellschaft heraus (z.B. durch Kriminelle) und nicht von oben (z.B. durch mächtige Parteien, Bosse, Lobbyisten) oder von außen (z.B. durch EU-Bürokraten, ‚Kommissare‘) aus den Angeln gehoben wird. Miteinander, gemeinsam müssen ‚Frieden und Freiheit‘ verwirklicht werden. Erst dann wird beides als ‚gerecht‘ empfunden. Diese ursprüngliche, genossenschaftliche Freiheit ist basisdemokratisch, nicht von oben oder außen durchgesetzt, verordnet oder ‚oktroyiert‘. „Genossenschaftliche Selbstordnung ist auch organisierte Sicherung des Gemeinwohls“. 5

Damit sind wir beim zweiten Merkmal politischer Freiheit: Es ist ein möglichst hohes Maß an (2.)Selbstbestimmung und Selbstordnung.

Wenn wir in die Geschichte blicken, dann sind Freiheitsrufe meist ‚Rufe nach Eigenverantwortung und Selbstordnung‘. Sie richten sich gegen Fremdbestimmung oder nicht mehr anerkannte Herrschaft. Oft wurden sie  ‚Eidgenossenschaften für die Freiheit‘ genannt (‚coniuratio pro libertate‘, schon im Jahr 1112 in Köln gegen den bischöflichen Stadtherrn). Die ‚alten Herrschaften‘ nannten das dann ‚Verschwörung‘.

Heute führen alle Politiker, alle Parteien und alle mächtigen Gruppen in Wirtschaft und Gesellschaft die Begriffe Freiheit und Demokratie wie geflügelte Worte ständig im Mund. Alle sagen das Gleiche und meinen doch ganz Verschiedenes.

Der Schweizer Historiker Urs Altermatt wunderte sich: „Mir fällt in Deutschland auf, wie oft dort das Wort ‚Demokratie‘ in den Mund genommen wird. In der Schweiz sprechen die Leute vom Souverän.“ Die Leute reden also von sich und ihrer politischen Macht: Das Wahlvolk ist der Souverän. Demokratie ist unter diesen Umständen so selbstverständlich, dass man sich ihrer nicht dauernd verbal vergewissern muss.“6

Selbstbestimmung und Selbstordnung müssen heute auf sechs Ebenen politisch und verfassungsrechtlich verwirklicht und abgesichert werden. Dabei gelten die Ziff. 1) bis 5) zunächst nur für einen europäischen Bürgerstaat. Andere Kulturen mögen das anders sehen.

  • Freiheit der Person und Familie (Privatautonomie)
  • Freiheit der örtlichen Gemeinschaften (Selbstverwaltung der Gemeinden)
  • Bundesstaatlichkeit bzw. Föderalismus (Freistaaten statt Zentralstaaten, z.B. Föderalismus für Basken, Schotten usw.)
  • Souveränität der Nationalstaaten (Europa der Nationen und der Vaterländer)
  • Europäischer Staatenbund statt Überstaat (Reform der EU an Haupt und Gliedern statt Brexit und Dauerkrisen)
  • Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Kulturkreise und ihrer Völker (friedliche Koexistenz statt Krieg der Kulturen, vgl. Selbstbestimmungsrecht gemäß I, 2 Charta der Vereinten Nationen)

Wir können hier von einer waagrechten Gewaltenteilung zwischen den einzelnen Gesellschafts- und Staatsebenen sprechen. Die höhere Einheit darf nur dann eingreifen, d. h. Gesetze oder Vorschriften machen, wenn sie verfassungsrechtlich ausdrücklich dazu ermächtigt ist. Verfassungsgeber (Consituante) ist nach demokratischem Staatsrecht immer das Volk.7 (Jede Verfassungsänderung und jeder völkerrechtliche Vertrag muss in der Schweiz vors Volk.)

Diese Freiräume sind auch nötig, damit die Menschen auf allen Ebenen ‚Erfolgslust‘ erleben können. [Menschenbild des Bürgerstaats Teil I und Teil II]  Darum ist der Bürgerstaat ein menschlicher Staat.

Montesquieu (1689-1755) sagte es allgemein und grundsätzlich: „Wenn es möglich ist, kein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, dass kein Gesetz erlassen wird.“ Denn jede Vorschrift von oben ist eine Freiheitsberaubung unten.

Auf all diesen Ebenen besteht in den Staaten der EU Handlungsbedarf für mehr Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstordnung. Das sind u.a. Themen für unsere bisherigen und künftigen Blog-Berichte.

Die EU ist darum so unbeliebt, weil sie ein zentralstaatlicher Moloch ist, der sich eine Allzuständigkeit angeeignet hat. Doch über politische Strategien und Überzeugungskraft verfügt sie umso spärlicher.

Jean-Claude Junker hat die Vorgehensweise in der EU offengelegt: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“8 Nach diesem Muster laufen die EU-Erweiterungen, die geheimen TTIP und TiSA-Verhandlungen, letztlich alle Machtergreifungen durch die EU und ihre Kommissare.  Dazu passt die ‚regulatorische Kooperation im Sinne von TTIP.

Sogar unser Bundesverfassungsgericht hat zum Teil resigniert oder sich angepasst. Sein Präsident Andreas Voßkuhle gab am 20.01.2016 im Deutschlandfunk ein Interview. „Di Fabio [ehem. Verfassungsrichter] hatte der Bundesregierung bescheinigt, mit der Grenzöffnung für Flüchtlinge gegen geltendes Recht zu verstoßen. Voßkuhle meinte dazu, in den vergangen fünf Jahren sei ‚eine Sensibilität eingetreten dafür, dass man rechtliche Regelungen nicht immer durchsetzen kann‘ und ‚Verträge weit ausgelegt‘ werden. Dies habe das Vertrauen in rechtsstaatliche Vereinbarungen relativiert. Dennoch glaube er nicht, man müsse deshalb ‚den Untergang des Abendlandes herbeibeschwören‘.“ Tatsächlich wird so der Rechtsstaat aus den Angeln gehoben und es ist ein weiterer Schritt Richtung Macht- und Willkürstaat.

3. Freiheit ist Machtbegrenzung für die Führungskräfte

Das alles zeigt uns, wie wichtig das nächste Merkmal unserer Freiheit ist: die (3.) Machtbegrenzung für die Führungsschichten.

Die erwähnt waagrechte Gewaltenteilung ist ein unverzichtbarer Baustein zur Machtbegrenzung und damit zur Freiheit im Bürgerstaat. Aber auch die klassische, rechtsstaatliche Gewaltenteilung zwischen der Regierung, der Gesetzgebung (z.B. Bundestag) und der Rechtsprechung ist genauso wichtig. Wir können sie auch senkrechte Gewaltenteilung nennen, weil sie die Macht gleichberechtigter Staatsorgane trennt. Die Schweizer sprechen statt von Gewaltenteilung von Gewaltentrennung.

Dieser Grundsatz geht wieder auf Montesquieu zurück. Er beschrieb in seinem Hauptwerk ‚Vom Geist der Gesetze‘ (1748) die oft zitierten Leitgedanken der Gewaltentrennung: „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann oder dieselbe Körperschaft der Fürsten, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausübte: Gesetze zu erlassen, sie in die Tat umzusetzen und über Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten."

Jeder kritische Beobachter unserer Verfassungswirklichkeit erkennt, dass der Parteienstaat z.T. erfolgreich diese Gewaltenteilung ausgehebelt hat. Die Regierungsparteien sehen sich heute mehr als Teil der Regierung denn als Gesetzgebungsorgan.

Auch die parteipolitisch ausgehandelten Richterwahlen bis zum Bundesverfassungsgericht sehen viele seit Jahrzehnten kritisch. Als 1988 (!) Gerd Pfeiffer, der Präsident des Bundesgerichtshofs, in den Ruhestand ging, mahnte er bereits: „Der Satz, der Bundesgerichtshof ist so gut wie es der Richterwahlausschuß zuläßt, trifft trotz der Vereinfachung den Kern der Sache. Jeder Bundesrichter, der aus persönlichen, parteipolitischen oder sonstigen sachfremden Erwägungen nicht aus der objektiven Spitzengruppe gewählt wird, belastet die Senatskollegien in unerträglicher Weise und auch die Güte der Rechtsprechung.“9 Auch das werden wir uns noch genauer ansehen müssen. Es ist icht besser, sondern schlechter geworden.

4. Freiheit ist Teilhabe und Mitwirkung der mündigen Bürger

Damit kommen wir zum vierten Merkmal, nämlich zur (4.) Teilhabe und Mitwirkung. Die waagrechte und die senkrechte Gewaltenteilung sowie die Machtbegrenzung der Führungskräfte sind Schutzrechte gegen Machtmissbrauch. Zu Anfang wurde jedoch klargestellt, dass der Bürgerstaat die ‚höchste Form der Selbstordnung der Bürger‘ ist. Dazu gehört, dass sie den Staat wie Eigentümer, nicht wie Dienstleistungs- oder Wohlfahrtsempfänger sehen und handhaben. Der Bürger wird im Bürgerstaat vom Anspruchsteller zum Verantwortungsträger.

Die Schweizer nennen das Miliz-System. Es gilt auch, aber nicht nur für das Militär. Daher kommt der Spruch: „Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee.“ Wenn der Staat von außen oder innen angegriffen wird, dann ist das ein Angriff auf das Volk. Das ganze Volk will und muss sich dann wehren. Denn es gilt: „Wir sind das Volk, und das Volk ist der Staat.“

Das Miliz-System ist für die Schweizer das, was sich in anderen europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten als ‚bürgerschaftliches Engagement‘ oder die Arbeit in NGO (Nichtregierungsorganisationen) entwickelt hat. Auch Vereins- und kirchliche Sozialarbeit u.a. gehören dazu. In der Schweiz sind die Abgeordneten keine Berufspolitiker, sondern nach dem Miliz-System ehrenamtlich tätig. Sie führen ihren Zivilberuf weiter. Nach ihrer Amtszeit treten sie ins Glied zurück. Das Gegenstück ist die reine Hoheitsverwaltung mit Berufspolitikern, von der die Bürger ausgeschlossen sind.

Das Ehrenamt oder Miliz-System braucht stets zur nachhaltigen und wirkungsvollen Arbeit einen hauptamtlichen Kern. Entsprechende Beispiele sind nicht nur die Miliz- oder Wehrpflichtarmee, sondern auch das Modell ‚Bürgerschule‘10 und erfolgreiche NGO.11

5. Freiheit braucht den zeitgemäßen Wandel

Damit schließt sich der Kreis. Freiheit und Gleichheit sind raum-, zeit- und kulturabhängig. Und damit sind sie dem Wandel unterworfen. Seit die Rechtsordnung nicht mehr als ewig gleiche und göttliche, sondern als menschlich-kulturelle Ordnung verstanden wird, gehört der Wandel dazu.

Damit bei diesem ständigen Fortschritt die Freiheit erhalten bleibt, muss wie bei der ‚alten deutschen Freiheit‘ der Grundsatz gelten: „Gemeinsame Sachen sind gemeinsam zu verhandeln und zu beschließen.“ Das ist die alte ‚Volkssouveränität‘. Damit haben wir einmal eine genossenschaftliche Freiheit; und zweitens ist das Volk der tatsächliche Träger der Staatsgewalt.

Dann verstehen die Bürger wieder, warum bei uns über jedem Gerichtsurteil die Eingangsformel steht: „Im Namen des Volkes“

Fußnoten:

1 vgl. Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt / M. 1971, S. 52 f; 145 ff

2 Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1963

3 Allerdings hatte Preußen die Hauptlast bei der Befreiung Europas von Napoleon getragen. Ohne Preußen kein Waterloo. Und Preußen hatte mit Stein und Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau sowie Alexander von Humboldt eine große Reformzeit hinter sich. Nur durch Arbeit und Disziplin war aus der armen „Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reichs“ eine europäische Macht geworden. Das müssen wir Süddeutschen trotz zwiespältigem Verhältnis zu Preußen anerkennen.

4 Hans Maier, Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 201 (1991), S. 11; mit Angabe der Fundstellen bei Montesquieu und Rousseau.

5 Hans Maier, a.a.O., S. 20

6 Wolfgang Koydl, Die Besserkönner, Was die Schweiz so besonders macht, Zürich 2014, S. 138 f

7 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, a.a.O., S. 312 ff. 8 Wolfgang Koydl, a.a.O., S. 147 ff.

9 Ansprachen zum Präsidentenwechsel beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe 1988, S. 35

10 Gerhard Pfreundschuh, Die Mittelschule, Reform der Sekundarstufe I, Heidelberg 2014, S. 78 ff.

11 mehr zum Schweizer Milizsystem: Wolfgang Koydl, a.a.O., S. 31 ff.

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